Editorial Haditha: das My Lai des Irak-Krieges

Liebe stern-Leser!

Auch im fünften Jahr des Irak-Kriegs versichert US-Präsident George W. Bush seinen skeptischen Landsleuten noch immer, dass Amerika ihn gewinnen werde. In seiner Rede an die Nation am vergangenen Donnerstag sprach er von der "Rückkehr zum Erfolg" und verkaufte die angekündigte Truppenreduzierung auf das Niveau vom Dezember 2006 als Resultat großer militärischer Fortschritte. Bushs Reden zum Thema Irak tragen im Rückblick beinahe komödiantische Züge. Zwei Monate nach Kriegsbeginn sagte er: "In der Schlacht vom Irak haben Amerika und seine Alliierten obsiegt." Im Mai 2005: "Nicht nur können wir den Krieg im Irak gewinnen, wir gewinnen den Krieg im Irak." Im August 2007:"Ein unmissverständliches Vermächtnis von Vietnam ist, dass der Preis des amerikanischen Rückzugs von Millionen unschuldiger Bürger gezahlt wurde." Einen Vergleich des Irak-Kriegs mit Vietnam hatte Bush bis dahin vermieden. Er nannte die Analogie "falsch". Seine Äußerung nun zeigt, wie groß seine Verzweiflung sein muss. Die beiden Konflikte sind aus vielerlei Gründen nur schwer zu vergleichen, in einem Aspekt jedoch sehr wohl: Beide Kriege offenbaren schmerzvoll, wie eine dilettantisch agierende Supermacht bei dem Versuch scheitert, in einer fragilen Region ein System nach eigenem Vorbild zu installieren und dabei Hunderttausende Opfer hinterlässt.

Es ist ein selbst verschuldetes Desaster. Nicht nur weil Amerika diesen Krieg nie hätte beginnen dürfen. Nach dem Einmarsch wurde reiner Tisch gemacht: Die Amerikaner lösten die Armee auf und vertrieben Hunderttausende Mitglieder von Saddams Bath-Partei aus hohen Ämtern und der Verwaltung - als Vorbild diente die Entnazifizierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem Vakuum folgte das Chaos, Sicherheitskräfte und Zivilverwaltung müssen seitdem mühsam reorganisiert werden. Bush nahm dem USAußenministerium die Zuständigkeit für den Wiederaufbau des Irak weg und schob sie dem Verteidigungsministerium zu. Beide lieferten sich fortan einen zermürbenden Kleinkrieg bei nahezu jeder Irak-Frage. Das oberste Gebot - die verschiedenen Volksgruppen miteinander regieren statt gegeneinander agieren zu lassen - geriet aus dem Blick. Der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, vollkommen beratungsresistent, umgab sich mit Jasagern, die der schmutzigen Realität in dem besetzten Land entrückt waren. Nun sitzt Amerika im Irak fest. Die USA stehen in der Pflicht, das Land einigermaßen geordnet zu hinterlassen, selbst wenn es zehn Jahre dauern sollte.

Im stern haben wir das Irak-Abenteuer von Anfang an kritisch begleitet und werden das weiter tun. In dieser Woche berichten unser US-Korrespondent Jan Christoph Wiechmann und der Fotograf Lucian Reed von einem bedeutenden Militärverfahren. Auf der Marine-Corps-Basis Camp Pendleton in Südkalifornien wird derzeit versucht, das größte amerikanische Verbrechen dieses Krieges aufzuklären, das Massaker von Haditha. Marines der Kilo Company töteten dort im November vor zwei Jahren 24 Iraker, unter ihnen Frauen und Kinder. Die Tat weckte Erinnerungen an das Massaker von My Lai, einer der Wendepunkte des Vietnamkriegs. Unsere Reporter verbrachten zehn Tage auf dem Militärgelände. Sie verfolgten die Anhörungen im Gericht, sie sprachen mit Angeklagten und Militärexperten, sie besuchten Zeugen aus Missouri, South Carolina und Kalifornien und kamen mit einen erschütternden Erkenntnis zurück: Das Verfahren trägt ähnlich dilettantische Züge wie die Durchführung des Krieges. Ob es je zu Verurteilungen kommen wird, ist fraglich (Seite 70: "Mörderische Helden").

Herzlichst Ihr

Andreas Petzold

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