Ischingers Welt "Keine Nation in Europa lässt sich so leicht verängstigen wie die Deutschen"

Wolfgang Ischinger Ukraine
Langjähriger Diplomat mit Blick fürs Ganze – von der Ukraine bis nach China: Wolfgang Ischinger
© stern-Montage: Fotos: Imago; Getty Images
Wolfgang Ischinger ist einer der erfahrensten deutschen Diplomaten. Für den stern blickt er hinter die Fassaden: Wie soll man auf den hybriden Krieg von Russland reagieren?

Herr Ischinger, was hat Sie überrascht in dieser Woche? 
In Sachen der Anerkennung Palästinas als Staat gab es nicht einmal mehr den Versuch, eine einheitliche europäische Haltung herbeizuführen. 2008 stand die EU vor einer ähnlichen Frage: Soll man den Kosovo anerkennen? Einige EU-Mitglieder wollten das damals nicht, seitdem kann die EU in Sachen Serbien und Kosovo nicht mehr mit einer Stimme sprechen. Wir haben uns selbst ins Abseits befördert. Jetzt erleben wir dasselbe. In Zukunft haben wir bei den wichtigen Fragen, wie es in Nahost weitergeht, schlicht nichts zu sagen. 

In dieser Woche läuft die UN-Vollversammlung – die Vereinten Nationen werden in wenigen Wochen stolze 80 Jahre alt. Tatsächlich wirken sie ja dieser Tage eher tot als lebendig. 
Sie leben schon noch, aber sie vegetieren dahin. Das fängt schon damit an, dass immer mehr Länder ihrer Mitgliedsbeiträge zu spät zahlen, zu wenig zahlen oder gar nicht zahlen, das betrifft vor allem die Amerikaner. Daneben haben wir Glaubwürdigkeitsprobleme. Die Hauptaufgabe des UN-Sicherheitsrats besteht darin, Sicherheit und Stabilität zu schaffen und Kriege zu verhindern oder zu beenden. Aber diese Aufgabe kann der Sicherheitsrat immer weniger ausüben.

Wolfgang Ischinger
© Lennart Preiss / DPA

Zur Person

Wolfgang Ischinger war von 2001 bis 2006 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA, von 2006 bis 2008 dann in Großbritannien. Anschließend übernahm er die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz, die er bis heute führt

Aber gab es das nicht schon im Kalten Krieg?
Natürlich legten auch damals die Veto-Mächte den Sicherheitsrat zuweilen lahm. Aber inzwischen hat man den Eindruck, dass sich die Großmächte immer weniger um ihren Ruf scheren. Halte ich mich als wichtiges Land der Welt an das Völkerrecht, an die Charta der Vereinten Nationen? Das scheint völlig in den Hintergrund zu treten. Und dennoch: Die Vereinten Nationen sind keineswegs überflüssig. Es gibt viele UN-Friedensmissionen militärischer und ziviler Art, es gibt die UN-Hilfsorganisationen, ohne die die Welt noch viel schlimmer dran wäre. 

Was spräche eigentlich dagegen, den Sitz der UN aus den USA, deren Präsident nur noch Verachtung für sie übrig hat, in ein anderes Land zu verlegen? Nach Brasilien, Indonesien oder Südafrika?
Die UN haben ja ohnehin zwei Hauptsitze, New York und Genf. Gegen solche Überlegungen spricht nichts, aber das würde natürlich wieder Geld kosten. Der entscheidende Punkt ist zudem: Dass die Vereinten Nationen 1945 in New York etabliert wurden und die Rockefeller-Familie das Grundstück stiftete, auf dem dieses tolle Gebäude am East River errichtet wurde, ist natürlich ein Argument für New York. Und es hilft auch, die USA an Bord zu halten. Ich vermute mal: Wären die UN nicht mehr in New York, hätte ein Donald Trump überhaupt nicht vorbeigeschaut.

Erinnern Sie sich an einen US-Präsidenten, der von der UN-Bühne mit so viel Verachtung für die UN gesprochen hat? 
Da tue ich mich schwer. Wir hatten natürlich auch vor 20 Jahren schon eine schwierige Lage. Den USA mit ihren damaligen Verbündeten wurde vor den UN vorgeworfen, das Völkerrecht massiv zu verletzen, weil sie einen nicht gerechtfertigten Angriffskrieg gegen den Irak führen würden. Aber damals hat der amerikanische Außenminister Colin Powell sich die Zeit genommen, um vor dem Sicherheitsrat die Argumente vorzutragen, die aus damaliger US-Sicht das amerikanische Vorgehen rechtfertigten.

Dabei legte er gefälschte Beweise für eine angebliche Chemiewaffen-Produktion des Irak vor.
Heute wissen wir, dass viele der damaligen Behauptungen nicht auf Tatsachen beruhten. Ich will diese Täuschung keinesfalls rechtfertigen. Ich will anhand dieses Beispiels nur verdeutlichen, dass den Vereinten Nationen und dem Sicherheitsrat damals offenbar noch ein großes Gewicht zugemessen wurde. Wenn wir auf heute blicken: Russland unternimmt nicht einmal mehr irgendwelche Bemühungen, um den Angriffskrieg in der Ukraine vor der Weltgemeinschaft zu rechtfertigen. Mit welchen Argumenten denn auch? 

Wir haben 30 Jahre lang nichts über die Notwendigkeit der Bundeswehr gehört

Trump hat mit seinem Statement auf “Truth Social” zur Ukraine für Aufsehen gesorgt, als er schrieb, er könne sich einen Sieg der Ukraine vorstellen. Es gibt zwei Interpretationen: Trump überlässt das Thema Ukraine nun komplett Europa und Russland. Die andere: Trump habe gegenüber Putin zumindest eine "gepunktete rote Linie" gezogen. Und der Rückzug der USA aus dem Verhandlungsprozess gibt ihnen mehr Möglichkeiten, die Ukraine im militärisch-geheimdienstlichen Graubereich zu unterstützen. Wie sieht Ihre Exegese aus?
Sowohl als auch. Trump hat ein Tabu gebrochen mit seiner Äußerung, die Ukraine könnte ja ihr gesamtes Staatsgebiet inklusive der Krim zurückerobern …

… oder sogar noch weitergehen, wie Trump schreibt.
Richtig. Das ist sehr weit weg von dem, was man von führenden europäischen Politikern in letzter Zeit hört. Auch in Kiew, wo ich gerade war, hieß die Botschaft: Man muss das realistisch sehen. Die Ukraine bekommt nun einen gewissen Rückenwind, wenn der US-Präsident auch nach Moskau signalisiert: Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Ukraine den Krieg verlieren wird. Auf der negativen Seite ist die Sorge, dass das wieder nur ein verbaler Schlag bleibt, dass die Unterfütterung dieser Aussage mit der Wiederaufnahme von amerikanischen Waffenlieferungen oder gar finanzieller Hilfe ausbleibt.

Wolfgang Ischinger Ukraine
Langjähriger Diplomat mit Blick fürs Ganze – von der Ukraine bis nach China: Wolfgang Ischinger
© stern-Montage: Fotos: Imago; Getty Images

"Not amused", Herr Ischinger, haben Sie sich in diesen Tagen über den Tweet eines Militäranalysten gezeigt, der das Szenario eines russischen Großangriffs auf die Nato skizzierte. Da antworteten Sie recht undiplomatisch: "Erschrecken Sie doch die Öffentlichkeit nicht zu Tode, die ohnehin schon verängstigt ist." Was meinen Sie damit? 
Ich finde es sehr wichtig, dass Experten auf militärischer und diplomatischer Ebene so intensiv wie möglich solche Szenarien durchdiskutieren. Aber es ist leider eine Tatsache, dass keine Nation in Europa sich so leicht verängstigen lässt wie die Deutschen, besonders wenn das Wort "nuklear" erwähnt wird. Ich bezweifle deshalb, dass wir uns einen Gefallen tun, in kurzen Social-Media-Beiträgen, die natürlich nie die gesamte Komplexität darstellen können, solche Horrorszenarien auszubreiten. Das ist Wasser auf die Mühlen von Frau Wagenknecht und anderen, die uns ständig einreden wollen, dass wir in einen verhängnisvollen Krieg hineinschlittern.

Ihre Gegner würden antworten, dass es gerade darum geht, den deutschen Michel aufzuwecken …
Wir haben eine leider unterentwickelte strategische Debattenkultur in diesem Land. Das merke ich bei meinen Vorträgen, wenn ich über Abschreckung spreche. Da meldet sich dann regelmäßig jemand und sagt: Ach, jetzt sprechen Sie von Kriegspolitik. Und ich antworte: Nein, Abschreckung ist der Versuch, Krieg zu verhindern. Man muss hier wirklich beim kleinen Einmaleins anfangen. Frau Merkel hat den Deutschen sehr überzeugend gesagt: Ich kümmere mich schon. Auch deswegen haben breite Teile der Öffentlichkeit auch über 30 Jahre lang nichts über die Notwendigkeit der Bundeswehr gehört.

Zuletzt, Herr Ischinger: Wo bleibt in dieser Woche das Positive?
Unterm Strich: dass das jüngste Gespräch zwischen Trump und Selenskyj zumindest aus der Sicht des ukrainischen Präsidenten ein gutes war. Wenn die persönliche Atmosphäre zwischen den beiden weiter passt, ist ja schon viel erreicht.

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