"Dokument des Zauderns" Militärhistoriker Neitzel zerpflückt Wehrdienstpläne

Soldaten bei der Bundeswehr
Soldaten bei der Bundeswehr (Archivfoto)
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Der Verteidigungsexperte Neitzel hat bei einer Anhörung im Bundestag ein vernichtendes Urteil gefällt. Dabei griff er eine Partei frontal an.

Es ist ein vernichtendes Urteil über das geplante Wehrdienstgesetz. "Ein Dokument des Zögerns und des Zauderns" nannte Sönke Neitzel den von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vorgelegten Entwurf am Montag in Berlin. 

Neitzel war als Experte der Union geladen

Der Potsdamer Militärhistoriker war von CDU und CSU als Experte zur Anhörung vor dem Verteidigungsausschuss eingeladen worden. Und klang zunächst freundlich. Der vorgelegte Entwurf für das neue Wehrdienstgesetz sei "ein Schritt in die richtige Richtung". Explizit begrüßte er die Pläne, ab Sommer 2027 die Musterung wieder für alle 18-jährigen Männer verpflichtend zu machen.

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel ist bekannt für seine dramatischen Prognosen – so sagte er im Frühjahr, 2025 könne der "letzte Sommer im Frieden" sein
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Doch dann rechnete Neitzel ab, nannte die Pläne "Belege für die Halbherzigkeiten der deutschen Politik". Die von Pistorius genannte Zielgröße, die Truppe von derzeit 183.000 in den kommenden Jahren auf 260.000 aufwachsen zu lassen, sei "diffus", zumal der reale Bedarf höher sei. Mit Freiwilligkeit allein lasse sich das Problem nicht lösen: "Ich sehe dafür kein Indiz."

Aber die Politik traue sich nicht, die notwendige Wehrpflicht wieder zu aktivieren. Dabei sei das von der Bundeswehr genannte Szenario, dass es 2029 zu einem Angriff aus Russland auf Nato-Gebiet kommen könne, ein "künstliches Datum". Bei der Nato würden alle davon ausgehen, dass die Gefahr "eher vorher" drohe, so Neitzel. Das Argument, die Gesellschaft sei nicht bereit für die Wiedereinführung der Wehrpflicht, nannte der für zugespitzte Prognosen bekannte Historiker "vorgeschoben". Umfragen zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung trotz der kontroversen Debatte für die Reaktivierung der Pflicht sei.

Besonders mit der SPD ging Neitzel hart ins Gericht. Diese verweigere sich den notwendigen Reformen, indem sie einen Automatismus für eine Wehrpflicht ablehne. Sie habe mit ihrer "irrlichternden" Haltung beim Thema Verteidigung wie schon früher in der Debatte um den Einsatz von bewaffneten Drohnen, den die SPD lange ablehnte, dem Land "schweren Schaden" zugefügt.

Zum Abschluss seines Statements wandte sich Neitzel direkt an die anwesenden Abgeordneten. Sollte es zu einem russischen Angriff auf Nato-Gebiet kommen,  "wird man auf Sie schauen", warnte Neitzel. "Sie können nicht sagen, Sie hätten nichts gewusst. Seien Sie Teil der Zeitenwende, nicht Teil der Zeitenbremse."

Unterstützung erhielt Neitzel von André Wüstner, dem Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbands, der ebenfalls als Experte für die Union eingeladen war. Es müsse im Gesetz ein "Umschaltmechanismus" vereinbart werden, sollte die Anzahl der Freiwilligen nicht ausreichen", so der Bundeswehroberst. Wer nur auf "das Prinzip Hoffnung" setze, die Freiwilligkeit, gehe eine "fahrlässige Wette auf die Zukunft" ein.

Der von den Grünen als Experte eingeladene Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Quentin Gärtner, beklagte die mangelnde Einbindung derjenigen, die vom Gesetz unmittelbar betroffen sind. "Man braucht junge Menschen – und trotzdem möchte man sie nicht einbeziehen", sagte Gärtner. Es sei "absolut unverständlich", dass bis zur Verabschiedung des Entwurfs durch das Kabinett kein Jugendvertreter einbezogen worden sei. 

Gärtner widersprach dem Bild, die Jugend sei nicht bereit, sich für ihr Land einzusetzen: "Ganz viele junge Menschen möchten anpacken und etwas für ihre Gesellschaft leisten." Dafür sei aber Voraussetzung, sie in Entscheidungen als ebenbürtige Gesprächspartner einzubinden.

AfD-Experte plädiert für dreimonatigen Grundwehrdienst

Der Experte für die AfD, der frühere Luftwaffengeneral Joachim Wundrak, sprach sich ebenfalls für die Reaktivierung der Wehrpflicht aus – und schlug einen nur dreimonatigen Grundwehrdienst vor. Dies könne die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen, so Wundrak, der in der vergangenen Legislatur für die AfD im Bundestag saß.

Die SPD hatte eigentlich den Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, als Experten eingeladen. Doch dieser wurde kurzfristig vom Präsidenten des Bundesamtes für Personalmanagement der Bundeswehr, Generalleutnant Robert Sieger, vertreten. Dieser referierte weitgehend die Position des Verteidigungsministeriums. 

So verwies er auf die Ankündigung von Pistorius, dass bis zum Frühjahr eine Aufwuchsstrategie vorgelegt werden soll. Erst dann lasse sich der genaue "quantitative und qualitative" Bedarf ableiten. Damit umging Sieger die Frage, ob die Bundeswehr auch ohne Wehrpflicht ihre Personalprobleme lösen kann.

Die einzige Expertin, die sich gegen die Reaktivierung der Wehrpflicht aussprach, war die von der Linke eingeladene Vorsitzende des Bundesjugendrings, Daniela Broda. Sie kritisierte zudem, der vorliegende Entwurf sehe junge Männer "als greifbare Ressource", aber nicht als Bürger auf Augenhöhe.

Das Wehrdienstgesetz liegt derzeit dem Bundestag vor und soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Zuletzt hatte es innerhalb der SPD Streit darüber gegeben, ob per Losverfahren bestimmt werden soll, wer zur Musterung einbestellt wird. 

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