Editorial Hamburg: schwarz-grüner Leuchtturm für den Rest des Landes?

Liebe stern-Leser!

Noch sind es nur ein Stück Papier und guter Wille, die die schwarz-grüne Koalition in Hamburg tragen. Deswegen darf man nicht zu früh jubeln. Denn wenn die Damen und Herren im Rathaus der Hansestadt scheitern, ist das gemeinsame Pilotprojekt der Lieblingsgegner von einst auch bundesweit auf lange Sicht tot. Andersherum: Im Erfolgsfall könnten Ole van Beust und Christa Goetsch die Vorboten eines neuen Politikverständnisses werden. Schwarz-Grün eröffnet den Wählern die Möglichkeit, die Lager endlich zu sprengen und vollkommen unterschiedliche Parteien und Wahlziele in einen Topf zu werfen. Die Zutaten ergänzen sich zu einem perfekten Menü: Im Falle Schwarz-Grün gibt es - einfach gesagt - Wirtschaftswachstum mit viel Ökologie abgeschmeckt, innere Sicherheit garniert mit Ausländerintegration, Eigenverantwortung und sozialen Ausgleich, Elitenförderung plus gerechtere Bildungspolitik und so fort. Alles nur scheinbare Widersprüche - wenn man will!

Ja, es bleiben große Unterschiede (Atomausstieg, Zukunft der Bundeswehr). Aber sich zu ergänzen ist wesentlich moderner, als dauernd nach "möglichst großen Schnittmengen" zu suchen. Doch in Koalitionsverhandlungen, gleich wo und mit wem, erleben wir immer dieselben Rituale: Ein dämliches Fingerhakeln, um den Gegner über den Tisch zu ziehen. Auch hier ist Hamburg beispielhaft: Beide Partner setzen eigene Vorstellungen durch, das Pluszeichen spielte die entscheidende Rolle, nicht das Dividieren!

Eine artfremde, überraschende Koalition an der jeweiligen Basis durchzusetzen ist nicht einfach. Schon jetzt quillt aus den Internetforen und Leserbriefspalten die blanke Wut, der Wirtschaftsflügel der Union gruselt sich, die CSU, ohne sie wäre der rechte Arm der Union amputiert - mokiert sich. Und grüne Stammwähler meckern: purer Machtwille, Verrat an unseren Werten, "wer Grün wählt, wählt auch Merkel". Die Obergrünen in Berlin scheinen ihrer Klientel recht zu geben - zumindest, wenn Kameras und Mikrofone laufen. Von Bütikofer bis Künast wiegeln alle ab: "Hamburg ist Hamburg!" Auch Parteichefin Claudia Roth gibt sich im stern-Interview verschlossen (Seite 52). Was aber die beleidigten Grünen-Stammwähler nicht ahnen: Ganz heimlich sind viele Spitzengrüne geradezu begeistert von der Kanzlerin: Klimaschutz, Menschenrechte, Islamkonferenz, Integrationsgipfel - da kommt mehr zusammen als in der rot-grünen Phase bei Gerhard Schröder. Merkel steht für das Ende der CDU als radikal-reformerische, allein auf Wachstum ausgerichtete Partei. Und Hamburg ist das Ende der Grünen als linksradikale, alternative Bewegung. Rational auf die Globalisierung zu reagieren und gleichzeitig sozialen Ausgleich und Menschenrechte zu realisieren - das könnte die Überschrift einer neuen schwarz-grünen Farbenlehre werden. Da fuhr auch Kurt Beck der Schreck in die Glieder, weshalb er laut aufjaulte und den Grünen Verrat an den Arbeitnehmerinteressen andichtete. Die Grünen seien "umgefallen". So muss man das wohl sehen, wenn man wie Beck nur in seinem Bunker sitzt und um sich schießt!

Es ist jetzt vor allem der Job der jüngeren Parteigänger, den Fundamentalismus vergangener Jahrzehnte zu entsorgen. Noch ist es zu früh, Schwarz-Grün oder Jamaika im Bund aufzurufen. Erst braucht es vermutlich noch ein, zwei weitere "Hamburgs" und vor allem unideologischen Parteinachwuchs, der irgendwann ganz oben mitredet. Bis dahin bleibt eine schwarz-grüne Bundesregierung ein Traum. Ein schöner Traum.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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