Editorial Jede Gesellschaft verteidigt, was ihr heilig ist

Liebe stern-Leser!

Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind so etwas wie das Wasserzeichen unserer Gesellschaft. Alles verinnerlicht, alles selbstverständlich - aber wir mussten uns diese und andere Wesenszüge einer freien Gesellschaft über Generationen hinweg erarbeiten, mit vielen bitteren Irrwegen. Von Voltaire über Preußen, Weimar und Hitler führte der Weg zum heutigen Grundgesetz. Während dieser Jahrhunderte blieb für die meisten Muslime der Islam das Gesetz und das Gesetz der Islam. Es gab keinen Voltaire, der erfolgreich das Diktat der Religion anprangerte, keinen Aufklärer, der Staat und Kirche auseinander hielt.

Und es sieht nicht so aus, als fände heute ein islamischer Voltaire mehr Gehör, wenn es denn einen gäbe. Im Gegenteil. Jeder Hauch von Selbstkritik wird umgehend erstickt: Ende vergangener Woche wagte es der Chefredakteur der jordanischen Zeitung "Shihan" in einem Kommentar folgende Frage zu stellen: "Wer beleidigt den Islam eigentlich mehr? Ein Ausländer, der den Propheten darstellt, oder ein Muslim, der mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnet auf einer Hochzeitsfeier in Amman ein Selbstmordattentat durchführt?" Sein Verleger beantwortete die Fragen auf seine Weise: Dschihad Momani wurde gefeuert. Schimpf und Schande prasselten auf ihn ein.

Die meisten westlichen Medien hätten auf die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen unter normalen Umständen verzichtet. Weil sie aus muslimischer Sicht ein enormer Tabubruch sind. Und damit das "religiöse Empfinden einer Personengruppe wesentlich verletzen können". Dies, so steht es im Kodex des Deutschen Presserats, ist verantwortungslos. Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch zumutbar.

Der Abdruck war

also nicht klug. Das vom Gesetz geschützte Recht aber, dies zu tun, hatten die dänischen Kollegen.

Diesen entscheidenden Unterschied wollen und können viele Muslime nicht verstehen. Und radikale Imame nutzen die Gunst der Stunde, um eine lokale Geschmacklosigkeit gezielt in einen hasserfüllten Kampf der Kulturen zu verwandeln (siehe Bericht Seite 30). Was dazu führt, dass sich nun auch der Westen einige grundsätzliche Fragen stellt: Wie kann es sein, dass Karikaturen über den Islam so viel mehr Empörung auslösen als Ter-rortaten im Namen des Islam? Wieso wird von uns Respekt gegenüber muslimischen Werten eingefordert - etwa beim Kopftuchstreit -, den viele arabische Staaten nicht einmal ansatzweise Christen und Juden gewähren? Wie sollen wir dieser Unversöhnlichkeit begegnen, diesem Glauben an die absolute Überlegenheit des Islam, der sich keinem weltlichen Gesetz unterwirft, schon gar nicht den Gesetzen der Ungläubigen?

Wenn schon kein Miteinander, dann sollte wenigstens ein konziliantes Nebeneinander der islamisch-arabischen Länder und des Westens möglich sein. Das ist machbar, wenn alle Seiten respektieren, dass jede Gesellschaft verteidigt, was ihr heilig ist, ob Pressefreiheit oder Bilderverbot. Und zwar mit friedlichen Mitteln verteidigt. Dort, wo die Botschaften brannten, kommt es jetzt auf die religiösen Führer an, denen die Deutungshoheit über alle Belange des Islam zugestanden wird. Nur sie können die Massen mäßigen.

Der Aufruhr im Orient wäre der richtige Anlass für besonnene Staatenlenker und Islam-Gelehrte, selbstkritische Fragen in den Moscheen zu stellen. Solange jedoch jeglicher Streit um die Auslegung des Korans unterdrückt wird, ja lebensgefährlich ist, bleibt der Hass auf den Westen ein wohlfeiles Instrument derjenigen, die um jeden Preis ihre Macht erhalten wollen.

Herzlichst Ihr

Andreas Petzold

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