Editorial Terror am Tigris

Das alte Europa lässt sich nicht in das "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns"-Korsett zwängen.

Liebe stern-Leser!

Der Kanzler wird zurzeit selten gelobt. Und wenn ihn doch mal einer rühmt, dann der Falsche. Beispielsweise Tarik Asis, Saddam Husseins Stellvertreter: "Herr Schröder ist ein cleverer Politiker", formulierte er begeistert. Und ganz gewiss hat Saddam Hussein nicht nur des Kanzlers Diplomatie, sondern auch die weltweiten Friedensdemonstrationen zu seinen Gunsten verbucht.

Aber: Wer der Bush-Regierung Missachtung des Völkerrechts vorhält, wer sich gegen den drohenden Krieg stemmt, der verteidigt keineswegs das Regime in Bagdad. Das alte Europa lässt sich nicht in das "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns"-Korsett zwängen.

Die Millionen auf der Straße haben gegen den Krieg demonstriert - und nicht für den irakischen Machthaber. Frieden mit Saddam ist derzeit einfach nur das kleinere Übel als Krieg gegen Saddam. Aber es bleibt ein Übel. Mehr als das: Saddam ist ein fürchterlicher Diktator, der bis zu den Knöcheln im Blut seiner Folteropfer steht. Es muss möglich sein, die Opfer zu Wort kommen zu lassen und Saddams Folterapparat zu brandmarken, ohne in den Verdacht zu geraten, damit einen Krieg rechtfertigen zu wollen.

stern-Reporter Wolfgang Metzner und Fotograf Edgar Rodtmann haben bei Menschenrechtsorganisationen und Exil-Irakern in Deutschland recherchiert. Hinter vorgehaltener Hand plädieren viele von ihnen für einen Militäreinsatz. Fast alle Interviewpartner haben Verwandte oder Freunde durch Hinrichtungen, Folter oder Kriege verloren. Manche hatten Angst, ihren Namen zu nennen und sich fotografieren zu lassen, weil ihre Angehörigen in Saddams Terrorstaat wie Geiseln leben und in Gefahr geraten könnten. Sie ärgern sich über die Friedensdemonstranten, die den Terror am Tigris nicht aufgreifen, obwohl die Gräueltaten durch unabhängige Organisationen längst belegt sind.

Dennoch: Ein Krieg brächte noch größeres Leid über die Zivilbevölkerung. Denn dieser Krieg dürfte bis zum bitteren Ende geführt werden, also bis zur Auslöschung Saddams. Das Weiße Haus will den Regimewechsel, nicht nur die Entwaffnung Iraks. Würden die US-Truppen abziehen, ohne dieses Ziel erreicht zu haben, hätte Präsident Bush Gesicht und politisches Gewicht verloren. Saddam Hussein würde als Heros der arabischen Welt unverdientes Ansehen gewinnen. Seine Macht wäre zementiert. Bush zappelt also in einer selbst gestellten Falle, aus der er vermutlich nur mit Gewalt ausbrechen kann. Das bedeutet Krieg, auch gegen den Widerstand des Rests der Welt.

Ich fürchte, Bush hat nicht die Größe, die Vernunft siegen zu lassen. Der Krieg wäre folglich ein Kollateralschaden, der beim Meißeln seines Denkmals anfällt. Er lässt sich auch nicht davon beeindrucken, dass die Amerikaner keineswegs wie ein Mann hinter ihm stehen.

Herzlichst Ihr Andreas Petzold