Es ist eine skurrile Situation. Mit der Geburt legen Kinder einen Start hin, der besser nicht sein könnte. Sie haben phänomenale Fähigkeiten, einen enormen Willen und ungeheuren Ehrgeiz. Sie sind aufmerksamer als Erwachsene, sind im Besitz von mehr Fantasie und können sich noch an sich selbst begeistern. Könnten Kinder Achtsamkeitstrainings anbieten, würden in Deutschland ganze Berufsgruppen arbeitslos. Kinder beobachten besser, leben intensiver und haben keine Hemmungen. Sie sagen, was sie denken. Fragen, was sie wollen. Handeln, wie sie fühlen. Je älter sie werden, desto mehr verlieren sie diese Fähigkeiten. Kinder lernen gern. Doch ausgerecht wir Erwachsene setzen oft viel daran, unseren Kindern eben das zu vermiesen.
Jede neue Entdeckung, jede neue Kenntnis und jede neue Fähigkeit, löst im Gehirn von Kindern einen für uns Erwachsene kaum noch nachvollziehbaren Sturm der Begeisterung aus. Diese Begeisterung über sich selbst und über all das, was es noch zu entdecken gibt, ist der wichtigste "Treibstoff" für ihre weitere Hirnentwicklung. Sicher gebundene Kinder erleben jeden Tag ganze Serien solcher Begeisterungsstürme. Sie sind hingerissen von neuen Erlebnissen und überwältigt von dem, was ihnen mit jedem Tag besser gelingt.
Sie wollen ihr Glück teilen und brauchen sofort eine Bestätigung, dass sie großartig sind. Wenn ihnen eine Entdeckung unter die Haut geht, werden im Gehirn die emotionalen Zentren im Mittelhirn aktiviert. Dann setzen diese Zellgruppen vermehrt sogenannte neuroplastische Botenstoffe frei: Sie wirken wie Dünger auf die aktivierten neuronalen Netzwerke. Diese bringen Nervenzellen dazu, all jene Eiweiße vermehrt herzustellen, die für das Auswachsen neuer Fortsätze und für die Neubildung und Stabilisierung von Nervenzellkontakten gebraucht werden. Deshalb lernt jedes Kind all das besonders gut, worüber es sich begeistert. Und Begeisterung entsteht nur, wenn etwas wichtig ist. Wirklich interessiert. Eine Bedeutung hat. So einfach ist das mit der Begeisterung am eigenen Entdecken.
Spielen fürs Leben
Diese entscheidenden Fähigkeiten erwerben Kinder nur durch eigene Erfahrungen, beim Lösen von Problemen und der Bewältigung von Herausforderungen. Nur dann werden im Gehirn komplexe Verbindungen geknüpft. Sie entstehen nicht auf ein Kommando, in der sogenannten Frühförderung oder später im Schulunterricht. Diese für Kinder so wichtige, hirngerechte und sinnvolle Arbeit findet statt, wo wir sie am wenigsten vermuten: im Spiel.
Dort, im spielerischen Umgang mit den Problemen, die wir Erwachsene unseren Kindern gewollt oder ungewollt bereiten, bereiten sich Kinder auf das Leben vor. Dort erwerben sie neue Fähigkeiten, dort machen sie ihre wichtigsten Erfahrungen: in eigenen, von uns nicht überwachten und kontrollierten Spielen. Im Spiel begegnen sie anderen Kindern, mit denen sie sich verbunden und denen sie sich zugehörig fühlen. Sie lernen, Konflikte zu lösen und gemeinsame Aufgaben zu erledigen. Aufgaben, die für einen allein viel zu groß wären.
Kinder wollen lernen!
Wenn wir Erwachsene uns bisweilen aufregen über das, was Kinder sich in ihrem Spielen erarbeiten, wenn wir sie streitend, ballernd, keifend, destruktiv, narzisstisch, desinteressiert, gelangweilt oder hyperaktiv erleben, vergessen wir allzu leicht, dass sie auf diese Weise doch nur versuchen, sich in harter Arbeit eben genau all das anzueignen, was wir ihnen als unsere Lösungen, sich im Leben zurechtzufinden, vorleben.
Denn das menschliche Gehirn ist nicht zum Auswendiglernen von Sachverhalten, sondern für das Lösen von Problemen optimiert. Deshalb brauchen schon Kinder möglichst viele und immer wieder neue Herausforderungen, die es zu meistern gilt, an denen sie wachsen können. Dazu brauchen sie vielfältige Gelegenheiten, sich selbst einzubringen, auszuprobieren, Verantwortung zu übernehmen. Nur so können Kinder den Nutzen von Disziplin und den Genuss des gemeinsamen Gestaltens erfahren.
Das menschliche Gehirn ist auch ein soziales Organ. Es entwickelt sich über Beziehungserfahrung. Diese Erfahrungen können Kinder nur innerhalb einer Gemeinschaft machen, in der sie erleben, wie schön es ist, gemeinsam mit anderen etwas entdecken, etwas gestalten oder sich einfach um etwas kümmern zu können. Selbstwirksamkeit: auch das ist, was Kinder glücklich macht. Zu erleben, dass sie die Dinge im Griff haben.
Leben ist mehr als die Jagd nach Noten, Leben ist mehr als die Vorbereitung auf eine mündliche Prüfung. Leben ist mehr, als auf Zeugnisse zu schielen. Leider aber verstehen sich immer mehr Eltern als Manager oder Trainer ihrer Kinder. Als Antreiber, weil sie der Meinung sind, "aus sich heraus" würden Kinder nicht lernen wollen. Ein Wahnsinn: Dieser Vorstellung liegt die Haltung zugrunde, Kinder seien irgendwie defekt. Falsch geraten. Irgendwas "fehlt".
Kindlicher Eigensinn, der einen zur Weißglut treibt
Kinder aber lernen am besten, wenn sie den Lernstoff selbst bestimmen können. Als geborene Entdecker genießen sie, ihre Neugier zu leben. Sie erschließen sich die Welt durch Versuch und Irrtum; je häufiger sie die Erfahrung machen, Probleme lösen zu können, umso stärker wächst ihnen Mut zu. Wenn sich dann jemand mit ihnen gemeinsam über jede gelungene Lösung freut, wächst auch ihr Vertrauen, selbst in der Lage zu sein, ein Problem allein lösen zu können und damit auch noch einen anderen Menschen glücklich zu machen.
Wer bisher besonders erfolgreich war und sich eine neue Fähigkeit nach der anderen angeeignet hat, erwartet, dass es so weitergeht. Kleinen Kindern geht es da nicht anders als Erwachsenen. Nur verstehen wir Erwachsenen nicht immer, was ein kleines Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung gerade besonders begeistert, wenn es mit großem Enthusiasmus eine bestimmte Absicht verfolgt.
So unbequem kindlicher Eigensinn für uns Erwachsene gelegentlich auch sein mag, so gefährlich ist es, ihn zu brechen. Er ist ja zunächst nichts anderes als ein Ausdruck der wiederholt gemachten Erfahrung eines Kindes, dass es durch Beharrlichkeit auch wirklich in der Lage war, sich eine neue Fähigkeit nach der anderen erfolgreich anzueignen. Wenn es nun erleben muss, dass es damit Ärger verursacht, Ungeduld erzeugt oder gar abgelehnt wird, muss es versuchen, dieses Bedürfnis zu unterdrücken. Damit unterdrückt es aber die Lust am eigenen Handeln, sogar der Lust am eigenen Entdecken und Gestalten und dem Ausprobieren und Einüben neuer Fähigkeiten.
Für Kinder kann alles gleichwichtig sein
Weil ein Kind noch nicht weiß, worauf es im Leben ankommt und weil es deshalb einzelne Wahrnehmungen noch nicht als besonders wichtig und andere als unwichtig bewertet, achtet es auf alles, was in seiner Umgebung passiert. Jedenfalls dann, wenn es sich bei den ihm vertrauten Bezugspersonen geborgen fühlt: aus einer sicheren Position heraus. Auch, wenn es sich nicht gerade besonders intensiv mit etwas Bestimmten beschäftigt oder etwas in seiner Umgebung passiert, das seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht: Die Sinne sind immer auf Empfang. Die meisten Kinder können deshalb sehen, schmecken, riechen, hören und spüren, was Erwachsene oft gar nicht mehr bemerken.
Beim Aufstehen, beim Anziehen, beim Zähneputzen - immer sind sie mit ihrer Aufmerksamkeit gleichzeitig überall. Alles ist neu, alles ist aufregend, das Leben ein Fest für die Sinne. Sie können sich gar nicht entscheiden, auf was sie zuerst achten und eingehen sollen, sofort biegt die nächste Sensation um die Ecke. So wird für Kinder jede noch so alltägliche Aktion zu einer Expedition. Die Großen zerren und wollen weiter, doch die Kleinen kommen nur achtsam voran.
Das ist gut so und das muss auch so sein: Nur in diesem Zustand ungerichteter Aufmerksamkeit kann eine bestimmte Wahrnehmung für ein Kind auch eine ganz besondere Bedeutung erlangen. Nicht deshalb, weil jemand seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, sondern weil das Kind selbst wählen kann, was ihm im Moment von all dem, was es wahrnimmt, ganz besonders gefällt, was es wirklich interessiert, womit es sich besonders verbunden fühlt.
Das ist ein großartiges Gefühl. Je intensiver Kinder diese Erfahrung von eigener Entscheidungsfreiheit zunächst auf der Ebene ihrer eigenen Wahrnehmungen machen und in ihrem Hirn verankern können, desto leichter wird es ihnen später gelingen, sich auch auf der Ebene ihrer Handlungen oder Verhaltensweisen frei zu entscheiden. Ein achtsamer Mensch lernt früh, was Freiheit bedeutet.