Der Müßiggang eint sie. Das Schlendern, Faulenzen und Sonnenbaden. "Sie", das sind die Gruppe am Ufer der Marne, in den Genuss des mitgebrachten Picknicks vertieft, und der Fotograf Henri Cartier-Bresson: Industriellensohn, schwarzes Schaf seiner Familie genialer Zeitchirurg, der die Szene beim Spaziergang findet. Es ist Sonntag, mitten im Sommer. Trotz des bedeckten Himmels ist es warm, Boote dümpeln träge im Wasser. Die Marne fließt langsam. Ein perfekter Tag zum Nichtstun.
Im Gras der Uferböschung haben sie Decken ausgebreitet, den Picknickkoffer aufgeklappt und es sich bequem gemacht. Der Mann vorne links, mit Hut und Hosenträgern, schenkt sich Wein nach. Die Frau ganz rechts, mit schulterfreiem Oberteil, nagt an einem Hähnchenschenkel. Dazwischen breiten sich ihre drei Freunde aus. Teller, Schalen und Flaschen liegen zwischen den Ausflüglern verstreut.
Süße Jahre
Es ist der Sommer 1938, seit zwei Jahren gibt es nun den bezahlten Urlaub. "Congés payés" heißen die gesetzlich zugesicherten Ferien in Frankreich. Eingeführt wurden sie von der neu gewählten linken Regierungspartei Front Populaire. Regierungschef Léon Blum und seine Genossen machen sich auch für die 40-Stunden-Woche stark. Das Gesetz von 1936 ist der Beginn einer französischen Liebesgeschichte - mit fast obsessiver Hingabe widmen sich französische Arbeiter und Angestellte seither dem Sommer, genießen die Sonne und das Nichtstun, verreisen, praktizieren das Savoir-vivre, denn das beherrschen sie in Perfektion. Es sind süße Jahre, ein kurzes Durchatmen zwischen zwei Weltkriegen und einer Wirtschaftskrise.
Der Zufall des Findens
"Ich mag es, wenn meine Bilder klar sind, oder besser zugespitzt", hat Henri Cartier-Bresson einmal über seine Arbeit gesagt. An diesem Sommersonntag an der Marne gelingt ihm eines dieser zugespitzten Bilder. Gerade dreißigjährig, flaniert der Bohémien, der eigentlich Maler werden wollte, den Fluss entlang, entdeckt die Auflügler und macht sein Bild. Ein virtuoser Müßiggänger mit der Kamera - fasziniert von der Idee des "objet trouvé", zufällig gefundener Schönheit, die der Künstler nur noch porträtieren muss.
Bresson perfektioniert die Kunst des gefundenen Bildes. Wenn er mit der Leica flaniert, ist das weit mehr als nur Müßiggang: Die Fotografenlegende erhascht den entscheidenden Augenblick mit Geduld, Ruhe und vor allem Konzentration. Mit eben dieser Mischung aus Schlendern und konzentriertem Suchen bannt Bresson die Essenz der französischen Lebensart auf Kleinbildfilm - Müßiggang kann so fotogen sein.