Von Jochen Siemens
Eine Stunde. Eine Stunde sollte das Licht arbeiten. Das hatte er sich so ausgerechnet. Er stellte die Kamera auf ein dreibeiniges Stativ, schob eine Platte hinein und drehte am Objektiv, bis die Glasplatte auf dem Tisch mit ihrer Schicht aus Staub und Fetzen einer Papierserviette so scharf zu sehen war, dass sie wie eine außerirdische Landschaft wirkte. Dann öffnete er den Verschluss am Objektiv und ging mit seinem Freund Marcel Duchamp zum Essen. Nach einer Stunde kamen die Männer zurück, er machte den Verschluss wieder zu und lief mit der Platte in den Keller, um sie zu entwickeln: "Das Negativ war tadellos."
Es ist eine andere Zeit der Fotografie, über die man berichten muss, wenn man über Man Ray spricht, den Amerikaner in Paris, der nächtelang mit Chemie und Objektiven experimentiert und dabei zu einem der wichtigsten Avantgardisten der Fotografie wird. Es sind die 20er Jahre in Paris, die Welt stampft im industriellen Zeitalter, von den Flugplätzen heben die ersten Passagiermaschinen ab, die Straßen füllen sich immer mehr mit Autos, immer mehr Menschen haben ein Telefon, und in den Kinos werden Stummfilme gezeigt. Beinahe jeden Tag wird etwas erfunden, Grenzen gibt es nicht mehr, voll fiebriger Neugierde spielt man mit Wasser, Feuer und Strom. Und mit dem Licht.
Wie Man Ray - "ein kleiner Mann mit hartem, fast hässlichen Gesicht und dem asymmetrischen Blick des Kurzsichtigen", wie ihn sein Biograf Jean-Hubert Martin einmal beschrieb. Als er im Juli 1921 in Le Havre das Schiff verlässt, das er in New York bestiegen hat, ist er 31 Jahre alt. Geboren wurde er in Philadelphia als Emmanuel Radnitzky; 1897 war seine Familie mit dem Siebenjährigen nach New York gezogen, und ein Verwandter hatte dem Jungen eine Schachtel Buntstifte geschenkt. Atemlos fing er an zu zeichnen, alles was er sah, malte er ab, besonders die ersten Fotos, die Zeitungen damals druckten, kopierte und kolorierte er mit seinen Stiften. Und schon als junger Mann kam er in Kontakt zur New Yorker Künstleravantgarde. Er war selbstbewusst, ein Freund großer Worte, malte und hielt sich als Zeitungsverkäufer, Graveur und Landkartenzeichner über Wasser und wechselte oft seine Jobs, immer neugierig, ein weiteres Handwerk zu erlernen.
Schon 1914 malte er wie besessen, hatte erste Ausstellungen, heiratete die belgische Schriftstellerin Adon Lacroix (die er bald wieder verließ) und änderte beim Meldeamt seinen Namen: in Man Ray, eine beinahe eitle Wahl, der Mann der Strahlen, der Strahlemann. Aber in der euphorischen Bohème New Yorks war das nicht ungewöhnlich, Kunst war ihr Ein und Alles, und Bedeutendes brauchte bedeutende Namen. Wie Man Ray - kleiner ging es nicht.
Als er 1921 nach Paris kommt, führt ihn Duchamp, den er in New York kennen gelernt hat, in die Dadaisten-Szene der Kunstmetropole ein, in der man - wie in Zürich oder Berlin -das Schockerlebnis des Ersten Weltkriegs durch Happenings und andere Provokationen zu bewältigen sucht. Nach einem halben Jahr hat Ray seine erste Ausstellung, und er beschäftigt sich weiter mit der Fotografie, vor der er im Unterschied zu anderen Malern keine Berührungsängste hat. Er kauft sich eine Kamera und fotografiert seine Werke, "weil ich mit der Art und Weise, wie die professionelle Fotografie meine Gemälde reproduzierte, nicht zufrieden war".
Dieses "nicht zufrieden" gehört zu den Wesenszügen des manischen Tüftlers. "Ich sprang immer von einer Technik zur anderen und wendete beide gleichzeitig an", sagte er. Vor allem das Spiel von Licht auf lichtempfindlichen Oberflächen, das Wesen der Fotografie also, interessierte ihn. Licht konnte viel mehr als nur abbilden, Licht war für ihn anarchisch und mehrdimensional. Es warf Schatten, veränderte die Chemie seiner Fotoplatten und erzeugte Effekte, die mit Pinsel und Farbe undenkbar waren.
Mit seinem beinahe manischen Ehrgeiz, die Technik für seine Kunst zu dressieren, war Man Ray den meisten Fotografen weit voraus, denen er entgegenhielt: "Ich bin ein Teil meiner Zeit; aber Sie, Sie hinken der Zeit hinterher." Um seine Aufnahmen zu entwickeln, saß er stundenlang in seinem Kellerlabor, meistens nachts, weil er noch kein Geld für eine Dunkelkammer hatte, und experimentierte. Seine grobkörnigen Bilder wurden damals oft als technisch misslungen angesehen, erst in den sechziger Jahren kamen sie in Mode. Nebenbei erfand Man Ray noch einen Meilenstein der Fototechnik: das erste Verfahren, von Farbnegativen druckfähige Papierabzüge zu machen. Zwei Jahre, bevor der erste Kodachrome-Film herauskam, druckte die Zeitschrift "Minotaure" schon 1933 ein Farbbild Man Rays.
In einer seiner Tüftelnächte gelang ihm eine weitere Erfindung. Als er verärgert auf die belichteten Abzüge in der Entwicklerschale schaute, weil das Bild nicht entstehen wollte, legte er einen Glastrichter und einen Messbecher in die Schale und schaltete das Licht an. "Vor meinen Augen begann sich ein Bild zu formen, keine konventionelle Foto grafie, sondern durch das Glas verzerrt und gebrochen und gegen einen schwarzen Hintergrund gesetzt", erinnerte er sich später. Man Rays neue Technik wird bis heute "Rayografie" genannt: Gebrochenes und verzerrtes Licht hinterließ auf lichtempfindlicher Oberfläche ganz eigene Kreationen, beinahe so, als habe das Licht seinen eigenen Pinsel.
In einer weiteren Nacht, in der Man Ray und seine Freundin Lee Miller wieder einmal, tief über die Entwicklerschale gebeugt, die Dämpfe der Chemikalien einatmeten, schreckte die junge Frau hoch, weil sie glaubte, eine Maus sei ihr über die Füße gelaufen, und schaltete das Licht an. Beide starrten auf die Negative, die noch im Entwickler schwa mmen; Man Ray nahm sie rasch heraus und legte sie in den Fixierer: An den Rändern der Abgebildeten auf den Porträts entstand ein heller, fast flammender Rand. Der Effekt war bereits als Solarisation bekannt, aber es war Man Ray, der lernte, sie zu steuern. "Die Veränderungen beginnen an den gut belichteten Stellen und setzen sich dann fort. So bekommt man Verschiebungen der Tonwerte." Grobkörnigkeit, Rayografie, Solarisation - bis heute gibt es keinen Fotografen, der dem Lichtbild so viel Impulse gegeben hat wie Man Ray.
Aber es gab auch immer noch den Künstler, den Lebemann, der im ersten Stock seines Lieblingsrestaurants "Aux trois Canettes" Hof hielt. Es waren lüsterne Zeiten, mit der Fotografie erblühte auch die Aktfotografie, und Kamerakünstler wie Man Ray konnten sich die Art-Groupies der Pariser Boh?me aussuchen. Sechs Jahre lebte er mit dem Model Kiki zusammen, das auf einem seiner berühmtesten Fotos zu sehen ist: einem Rückenakt mit den aufgemalten Schalllöchern einer Violine. Es folgten die Fotografinnen Lee Miller und Berenice Abbott und später die Künstlerin Meret Oppenheim, mit der er eine ganze Reihe von Akt-Happenings inszenierte. Der Surrealismus, der aus dem Dadaismus hervorgegangen war, beherrschte jetzt die Kunstszene: die verstörenden Traumvisionen des Salvador Dal?, die luziden Poeme des Paul Eluard, die mitreißenden Manifeste des André Breton.
Das paradiesische Leben der Boheme wurde 1940 durch Hitlers Einmarsch abrupt beendet. Die Kunst floh aus der Stadt, und auch Man Ray packte seine Sachen. Er ging nach Kalifornien, doch lange hielt es ihn dort nicht; Paris fehlte ihm, die künstlerische Luft in den USA erschien ihm zu dünn.
1951 kommt er zurück nach Paris, er ist jetzt 61, und eine Generation junger Fotografen wie Helmut Newton oder David Bailey verehrt ihn. Doch er spürt auch, dass sein Können nicht mehr gefragt ist. Die ausgetüftelten Unikate weichen einer Materialflut. "Der Fortschritt im Entwickeln und in der Technik der Fotografie ist enorm; aber was die kre ative Seite anbetrifft, so kann man kaum von Fortschritt reden", stellt er mit milder Resignation fest.
Und er versucht - mürrisch wie stets - in seinem Studio die Zeit anzuhalten. Noch mit achtzig trottet der - dank guter Verkäufe mittlerweile reiche - Mann im Winter in die Garage, um den Ölofen in Gang zu halten, neben seinem Bett hat er immer noch eine Zigarrenkiste und ein altes Telefon auf einem Schwenkarm montiert, und die Trennwand zur Dun kelkammer besteht immer noch aus den alten Brettern, auf die er "Painting - Museum of Modern Art" geschrieben hatte. Hier, in seinem eigenen Museum, wo es bis zuletzt nach Chemikalien riecht, stirbt Man Ray 1976. Der Fotowelt von heute, mit ihren Digitaltechnos und Pixelfreaks, hinterlässt er das zornige Urteil: "Ich verabscheue diejenigen, die die technische Fertigkeit in meinem Werk bewundern. Eine gewisse Verachtung für das Material, das verwandt wurde, um eine Idee auszudrücken, ist für die reinste Verwirklichung der Idee unerlässlich."