Die Risse waren mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Nils Hählen erspähte sie trotzdem: durch die Plexiglasscheibe des Helikopters, in mehr als 2800 Meter Höhe. Wie feine Narben zogen sie sich durch den Körper des Berges, verliefen entlang seiner Gesteinsschichten und durch sie hindurch. Unmittelbar unterhalb des Gipfels jedoch weiteten sie sich zu klaffenden Wunden: zu Vorboten einer Katastrophe.
Ein Gleitschirmflieger hatte die Spalten zwei Tage zuvor entdeckt und Alarm geschlagen. Dass der Fels hier, am Gipfel des Spitze Stei in den Schweizer Westalpen, instabil sein könnte, ahnte Hählen längst. Auf Satellitenbildern hatte der Abteilungsleiter im Amt für Naturgefahren des Kantons Bern Bewegungen entdeckt. Er wusste: In der Bergkette rumort es bereits seit Jahrtausenden, immer wieder waren ganze Flanken ins Tal gestürzt, hatten Wälder und Täler verschüttet, die Landschaft verformt.
Doch die Felsspalten, die sich nun vor Nils Hählen auftaten, stammten nicht aus jahrtausendealten Bewegungen. Sie waren frisch.