Ich war ein Experiment", sagt Alina Treiger. Heute wird die 31-Jährige als erste Frau seit dem Holocaust in Deutschland zur Rabbinerin ordiniert. Treiger, eine zierliche Frau mit blonder Hochsteckfrisur und großen, braunen Augen, stammt aus der Ukraine. Sie studierte am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg. Ob es funktionieren würde, eine junge Frau aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland zur Rabbinerin auszubilden und für eine hiesige Gemeinde zu gewinnen, war unsicher. Doch Treiger bleibt - das Experiment ist geglückt.
Bei ihrer Ordination und der zweier männlicher Kommilitonen wird auch Bundespräsident Christian Wulff erwartet. Ende November zieht Treiger dann nach Oldenburg, wo sie bereits ein zweijähriges Praktikum machte. Die Gemeinde möchte sie gern als Rabbinerin haben, obwohl sie eine liberale Glaubensrichtung vertritt und die Gemeinde als konservativ gilt. Doch die "Verkupplung", wie sie es nennt, funktionierte und jetzt freut sie sich auf ihre Aufgabe. Nur etwa 50 der 110 jüdischen Gemeinden in Deutschland haben einen Rabbiner. Treiger wird die erste Frau sein, die in Deutschland das Rabbiner-Studium absolvierte. Die wenigen weiblichen Kolleginnen haben meist in den USA studiert.
Die Feier des Sabbat-Gottesdienstes, Erwachsenenbildung, Seelsorge, die Aufnahme neuer Mitglieder und besonders das Predigen wird zu Treigers Aufgaben gehören. Doch es wird noch mehr von ihr erwartet: Ein Rabbiner hat Vorbildfunktion. "Meine Handlungen müssen bedacht sein", sagt sie. Nach ihrer Entscheidung, Rabbinerin zu werden, habe sie einige Jahre gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, dass auch ihre privaten Lebensumstände unter Beobachtung stehen. "Ich bin früh erwachsen geworden", sagt sie, die mit einem früheren Kommilitonen verheiratet ist.
Ursprünglich wollte sie die Musik zu ihrem Beruf machen - sie leitete in ihrer Geburtsstadt Poltawa einen Chor und spielte Klavier. Nachdem sie sich in der Jugendzeit begonnen hatte, mit ihrem Glauben zu befassen, sah sie im Erlernen des Rabbiner-Berufs ihre Aufgabe. "In der Ukraine war der Glaube halb vergessen", erinnert sie sich. Die Unterdrückung der Religion in der Sowjetunion habe dazu geführt, dass nur kulturelle und soziale Elemente des Judentums erhalten geblieben seien. Sie sei neugierig geworden auf die Inhalte und habe mehr und mehr lernen wollen.
Zunächst ließ sie sich in Moskau zur Gemeindearbeiterin ausbilden. Zurück in der Ukraine bot ihr die Weltorganisation für progressives Judentum (WUPJ) das Studium in Deutschland an. Treiger sagte zu, denn "für mich war das eine große Chance". Neben Bibelkunde, Talmud und Liturgie lernte sie Deutsch, Hebräisch und Aramäisch. Im Sommer dieses Jahres schloss sie das Studium ab.
Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gehört für sie dabei zur "bewussten Trauerverarbeitung". Auf deutscher Seite könne zwar nicht korrigiert werden, was geschehen ist. "Das ist unwiderruflich", sagt sie, aber es könne versucht werden, das wieder herzustellen, was vorher war. Die jüdische Identität dürfe nicht nur durch die Geschichte wahrgenommen werden. "Das Judentum lebt weiter", sagt sie.
Ihre ursprüngliche Absicht, nach dem Studium in die Ukraine zurückzukehren, hat sie aufgegeben. Ihr Umfeld, ihre Freunde, ihre Interessen hätten sich geändert, erklärt sie. Sie lebe gern in Deutschland und in gewisser Weise könne sie wohl auch als positives Beispiel von Integration verstanden werden.
"Ich vereine jetzt drei Kulturen in mir: die jüdische, die deutsche und die der ehemaligen Sowjetunion", sagt sie. Alle drei Kulturen hätten ihren Platz und seien ihr wichtig. "Und wenn es jetzt so sein soll, dass ich in Deutschland lebe, dann arbeite ich hier und hoffe, dass ich der Jüdischen Gemeinde von Nutzen sein kann", sagt sie bescheiden.