Als die Briten vor einigen Jahren ein Ministerium für Einsamkeit gründeten, dachte ich noch: “Die spinnen, die Briten!“ Weshalb sollte sich der Staat auch noch um Einsamkeit kümmern?
Das Letzte, was ich mir früher in einsamen Momenten wünschte, war ein Flyer mit Tipps vom Einsamkeitsminister. Nach mehr als zwei Jahren Pandemie sehe ich das etwas anders.
Die Fürsorgepflicht des Staates in Zeiten der Einsamkeit
Der Staat hat in der Corona-Zeit immer wieder Isolation als Schutzmaßnahme verordnet. Ich finde, er sollte auch Sorge tragen für deren Nebenwirkungen wie die Einsamkeit. So ein Ministerium ist womöglich eine Antwort einer aufgeklärten Gesellschaft auf diese verrückte Zeit.
Beim Thema Einsamkeit sehen die meisten schnell ältere Menschen vor sich, doch gerade jüngere trifft sie hart. All die vielen Monate zwischen zähen Maßnahmendebatten und Teil-Lockdowns müssen für junge Leute eine Zumutung sein.
Schon ein Feriensommer fühlt sich in der Kindheit an wie ein halbes Leben. Fast alles ist neu. Man erspielt sich die Welt. Man lernt andere kennen und mögen, man lernt, sich zu verbinden, und irgendwann verliebt man sich schonungslos. Corona hingegen heißt Selbstkontrolle: Lebe so wenig wie möglich, um dich und andere zu schützen! Was ist das für ein Anti-Carpe-Diem-Imperativ?
Der erste Kuss in Zeiten von 2G
Ich will niemanden anklagen, die Lage ist, wie sie ist. Aber ich frage mich, ob wir genau hinsehen, was diese zwei Jahre mit dem Lebensgefühl der Jugend machen, mit der Art, wie sie diese Welt erfahren. Wie gibt man in Corona-Zeiten den ersten Kuss? Fragt man vorher nach dem Impfstatus? Wie soll man, bei all der Vorsicht, die eigene Stärke spüren? Was denken Jugendliche über einen Staat, der zum Teil selbst in Jugendzentren 2G verordnet, und der beste Freund muss draußen bleiben, weil die Eltern Impfgegner sind?
Jugendliche, die halbe Nachmittage online verbringen, waren schon vor Corona ein Problem. Doch nun starren manche bis zu zehn Stunden täglich auf Bildschirme, teils müssen sie das, teils können sie nicht anders. Haben Sie sich in diesen beiden Jahren die Millionen junger Köpfe im Land vorgestellt, die zu Hause fast in ihre Smartphones fallen? Vermutlich haben Sie einigen von ihnen sogar ratlos dabei zugesehen, froh, dass sie überhaupt noch Kontakt zur Welt und zu Freunden haben.
Und dann die unbeholfene Werbung der Regierung
Immer wieder muss ich an einen Werbespot der Bundesregierung denken. Er zeigte zu Beginn der Pandemie, wie ein junger Mann sich im Lockdown in eine Pizzabotin verliebt. Es folgt ein Sprung in die Zukunft, da sitzt er als alter Herr, Seite an Seite mit seiner Frau (vermutlich der Pizzabotin), und spricht in “Opa erzählt vom Krieg“-Pose über seine Jugend in Zeiten von Corona: Sie hätten ja alle nur auf dem Sofa liegen müssen, um Helden zu werden.

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Klingt einfach, nach zwei Jahren ist aber klar, es bringt nichts, härter gegen hart auszuspielen. Der lange Verzicht auf Normalität ist gewiss eine andere Art der Bedrohung als Krieg, aber auch er kennt existenzielle Ausmaße. Es gibt neue Studien zu Suizidraten. Berichten über Kinder- und Jugendpsychiatrien zufolge mussten mancherorts psychisch kranke Kinder auf dem Boden auf Matratzen schlafen, weil kein Bett mehr frei war für sie.
Die Jüngsten blieben anfangs zu Hause, um die Älteren zu schützen. Generationengerechtigkeit würde bedeuten, den Jüngeren nun wenigstens keine Angststörungen in die Wiege zu legen, sondern Perspektiven. In kleinen Schritten könnte uns das am Ende sogar zu einem Einsamkeitsministerium führen. Manchmal braucht es nur eine Pandemie, damit ich meine Meinung ändere.

Jagoda Marinić
Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.
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