Nun betrete ich dünnes Eis. Ich weiß, man soll Eltern ehren und Kinder hüten, doch möchte ich unschuldig fragen: Was stimmt mit der Jugend nicht? Ich meine das leider nicht so wie im antiken Sokrates-Zitat: "Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer." Ich meine das Gegenteil: Warum sind sie so folgsam, warum widersprechen sie so selten, lassen sie sich von jedem Erwachsenen erklären, was angeblich mit ihnen los ist und ob sie gut genug sind?
Die Angst der Jugend etwas zu verpassen
Auf Instagram erschrecke ich oft, wenn mir Videos für Jugendliche eingespielt werden. In den meisten davon sehe ich einen jungen Menschen, der mindestens ein Problem hat. Es folgen Psychologen oder andere Experten, die Rat geben, etwa gegen FOMO (Fear of missing out), für Leute, die Angst haben, etwas zu verpassen. Unter dem Video eine Triggerwarnung. Das Ganze haben Erwachsene sich ausgedacht und machen auf jung: Triggerwarnung, Bekenntnisvideo, Pathologisierung. Rat kostet jenseits des Videos Geld, vermutlich wird auch deshalb die Liste der Krankheiten immer länger, werden die Patienten immer jünger.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (Arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.
Vor allem das Angebot der öffentlich-rechtlichen Jugendkanäle folgt unkritisch diesem Trend und tut so, als sei Pathologisierung der Sinn des Lebens. Ich frage mich, was wir Erwachsene uns herausnehmen, die Jugend ständig für fragil zu halten. Ihr ständig unsere Fürsorge überzustülpen. Wodurch ist es uns eigentlich gelungen, ihre Kraft und ihren Trotz zu zerstören, dass sie so brav dasitzen, statt ihr Jungsein zu leben? Wie es um die ehrliche Fürsorge in unserer alternden Republik tatsächlich bestellt ist, zeigte sich während Corona, als die Jüngeren hintanstehen mussten – sie hätten ja noch so viel Leben vor sich, hieß es. Doch gerade deshalb hätten wir sie durch diese Pandemie bringen müssen, ohne dass fast jeder Vierte nun psychische Probleme aufweist.
Wie soll die Jugend überhaupt noch jung sein können?
Vielleicht sind diese Videos der Versuch, den Folgen der Pandemie gerecht zu werden. Doch man reduziert die Jugend: Sieh dich an, du findest schon ein Problem! Man nennt das Mental Health, dabei individualisiert es gesellschaftlich erzeugtes Leid. Meist folgen Tipps, wie man psychisch gesund bleibt. Wie wäre es, wenn man zeigte, dass auch das Verrückte seinen Platz hat? Menschen dürfen in ihrer Unterschiedlichkeit und Unvollkommenheit leben und müssen nicht alle durch den TÜV, um hier mitzumachen. Diese Gesellschaft ist in ihrem Optimierungswahn pathologisierungsfanatisch geworden – auf die Jugend prasselt das alles ungebrochen und ununterbrochen ein. Noch schnell die Welt retten, Klima und Menschenrechte, wie soll ein 16-jähriges Seelengerüst da nicht zusammenbrechen? Wo sind die Freiheit, Übermut und Tyrannei der Jugend? Ist die Gegenwelt für diese Dauerernsthaftigkeit, für Nabelschau statt Welterkundung wirklich nur noch Youporn?
Gerade ging ein Video der Schauspielerin Kate Winslet viral. In einer berührende Rede stellt sie die Frage, wer sich um den Schaden kümmere, den soziale Medien bei den Jugendlichen anrichten. Ein Viertel der Jugendlichen sei süchtig nach den Plattformen. Andauernd heiße es dort: Mit euch stimmt was nicht! Doktert so oder so an euch herum!
Ich wünschte, Jugendliche wären so nervig wie in der Antike und nicht orientierungslos auf der Suche nach Rat von uns Ahnungslosen, überdrehten Erwachsenen. „We don't need no education" war eigentlich kein schlechter Slogan meiner Jugend, die natürlich eh besser war.