Ach, Mensch - Gesellschaftskolumne Widerspruch üben. Allein das hilft gegen die Spaltung unserer Gesellschaft

Zwei Männer diskutieren miteinander
In Dialog miteinander treten
© gettyimages
Damit die Gesellschaft nicht auseinanderbricht, braucht es jeden von uns: Wir müssen die Andersdenkenden im Gespräch halten

Schon bei der Pest im 14. Jahrhundert war es so. Jede Pandemie hat die Gesellschaft gespalten. Sündenböcke wurden gesucht (und vermeintlich gefunden), Verschwörungserzählungen verbreiteten sich im Land. Eine so unsichtbare Bedrohung braucht eine Geschichte, die sie erklärt – sonst scheint sie nicht begreifbar zu sein. In den Pestpandemien des Mittelalters hatten angeblich Juden die Brunnen vergiftet. Anfang des 19. Jahrhunderts sollen die Franzosen auf ihrem Vormarsch in Europa Cholera im Gepäck gehabt haben. Immer brauchte es einen Schuldigen für das Massensterben .

Heute einen (vermeintlich) Verantwortlichen für die Corona-Pandemie zu finden, ist ungleich schwieriger. Eine breite Mehrheit für eine Sündenbocktheorie zu gewinnen ist in der Moderne unmöglich. So hat sich Donald Trumps Geschichte von der "Chinesen-Grippe" genauso wenig flächendeckend durchgesetzt wie die Idee, ultrareiche Milliardäre wie Bill Gates wollten die Menschheit mithilfe von Impfstoffen reduzieren.

Der Streit ums Impfen löst die Sündenbocktheorien ab

Diese verrückten und im Kern allzu einfachen Geschichten finden ihren Nährboden nur in Social-Media-Blasen, wo sie in geschlossenen Milieus vor sich hin gären. Immerhin: Experten schätzen, dass bis zu 20 Prozent der Menschen anfällig für solchen Schwachsinn sind. Das sind viele, aber die übrigen 80 Prozent sind die Mehrheit.

Dennoch spaltet auch Corona. Nicht in vermeintlich Schuldige und den Rest. Sondern – auf den einfachsten Nenner gebracht: in Impfbefürworter und -gegner. Diese Lager gibt es seit der Erfindung des Pockenimpfstoffs: Ein unsichtbares Heilmittel gilt vielen als genauso unheimlich wie die Seuche selbst. Der Streit ums Impfen hat die Sündenbocktheorien abgelöst.

Wer sich heute impfen lässt, nimmt die Krankheit ernst, fürchtet sie vielleicht sogar, und folgt daher den Schutzmaßnahmen, die die Regierung erlässt. Diese Gruppe vertraut mehr oder weniger den politisch Verantwortlichen und geht davon aus, dass der Infektionsschutz das oberste Ziel ist.

Die Impfgegner sind eine heterogene Versammlung von Menschen, zu der viele zählen, die Covid durchaus anerkennen, aber mit dem mRNA-Impfstoff ein Problem haben. Dazu gesellen sich selbst ernannte Hüter der Freiheit und vor allem diejenigen, die solche Zweifel instrumentalisieren mit dem Ziel, das Vertrauen in den Staat und unsere Grundordnung zu zersetzen. Das funktioniert, und zwar sicher. Wie eine solche gesellschaftliche Bruchlinie vom russischen Geheimdienst instrumentalisiert wird, zeichnet der Podcast "Cui Bono – What the fuck happened to Ken Jebsen?" beeindruckend nach. Das Ziel ist politische Instabilität.

Das eigentliche Problem: ein fehlender Dialog

Das Problem ist, dass beide Lager dazu neigen, undifferenziert über das jeweils andere herzuziehen. Da werden Impfbefürworter schnell zu dämlichen "Schlaf-Schafen", die alles kritiklos hinnehmen. Und Impfgegner zu rechtsextremen Staatsfeinden.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Alle sind nervös und gereizt, der Dialog rückt in immer weitere Ferne. Der Streit um die Impfpflicht lässt die Stimmung nun eskalieren. Eine wachsende Gruppe ist für staatliche Aufklärung und journalistische Information nicht mehr erreichbar.

Was allein hilft, ist der persönliche Widerspruch. Freunde, Kollegen, Verwandte: Wenn sie Unsinn reden, braucht es jemanden, der sagt: Nein. Das sehe ich anders. Diese Beziehungen halten die Gesellschaft im Kern zusammen. Wo sich Menschen begegnen, die sich im Grunde schätzen, findet notwendige Bindung statt. Wer da abwinkt und dem Streit aus dem Weg geht, lässt den anderen los. Und so verlieren wir am Ende alle.

Erschienen in stern 03/22