Der 31. Dezember war ein guter Tag. Es war kalt und klar, sogar die Sonne schaute ein bisschen vorbei. Ich frühstückte spät und gut, Brötchen, Schinken, Ei. Später war ich bei meiner Oma zum Grünkohlessen eingeladen, mit Kohlwurst und Kasseler. Zum Kaffee gab es die letzten Stollenreste und nach dem Raclette am Abend den obligatorischen Berliner.
Normalerweise ist das ein Speiseplan, der mich in große innere Bedrängnis bringt: die pure Unvernunft. Ich weiß, dass man anders essen sollte. Und ich besonders, schließlich liegt mein Body-Mass-Index signifikant jenseits der 30, ich hätte eigentlich zwischen Fitnessstudio und Rohkostteller hin- und herpendeln müssen. Aber der 31. Dezember war auch deshalb ein guter Tag, weil er der Tag der Vorsätze ist - neues Jahr, neues Glück. Auch ich lebte in dem Bewusstsein, dass ab morgen alles anders wird. Ab morgen würde ich abnehmen. Ganz bestimmt. Das habe ich an Silvester gedacht. Und es sogar geglaubt.
Ich bin ein großer Freund guter Vorsätze. Sie sind beruhigend, ein Versprechen auf bessere Zeiten, und für den Moment spenden sie Kraft, Freude, Ausgelassenheit, ja, sogar Trost. Und der Vorsatz "im nächsten Jahr 15 Kilo abnehmen" ist für mich ein Dauerbrenner an jedem Silvester. Nach Neujahr wird er ersetzt durch einen anderen: ab morgen. Ab morgen fange ich wieder an mit meiner Ernährungsumstellung. Mit Sport. Mit zwei Litern Wasser am Tag. Morgen also, oder ab dem nächsten Ersten. Dieses Mantra ist wichtig für Typen wie mich. Typen, die dünner sein wollen, als sie sind. Und die wissen, wie es geht. Wie es sich anfühlt.
Gefangen im System des Ab- und Zunehmens
Seit ungefähr zehn Jahren lebe ich im Jo-Jo-Modus. Von 117 Kilo auf 88, rauf auf 114, wieder runter auf 92, 113, 89 und so weiter. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends gab es keine zwei Wochen, in denen ich mal mein Gewicht gehalten hätte. Als ich beim ersten Mal fast 30 Kilo verloren hatte, war ich überwältigt von mir selbst. Und ich dachte: Das war's. Alles richtig gemacht, jetzt werde ich für immer ein muskulöser Typ mit einem kleinen, niedlichen Bäuchlein sein. Das war ein Irrtum. Schon ein paar Wochen später stand vorn die 9 auf der Waage, und ich wusste nicht, was ich dagegen machen sollte. Ich ahnte damals bereits dunkel, dass ich die mittlere Vorhölle betreten hatte, die man in einschlägigen Kreisen den Jo-Jo-Effekt nennt.
Tja, und da bin ich nun Gefangen im System des Ab- und Zunehmens. Ist das der "Kreislauf des Lebens"? Zumindest ist es einer, den viele nicht verstehen können. Warum ich überhaupt zunehme, werde ich manchmal gefragt, übrigens sehr vorsichtig und nur von Menschen, die mich gut kennen, ich wüsste doch wie kein anderer, wie das funktioniert mit dem Abnehmen. Das stimmt schon. Aber es schützt mich vor gar nichts. Auch nicht vor den unerklärlichen Kräften in meinem Körper, die mich zu Hause halten und nicht zum Sport gehen lassen. Die mich Chips und Käse essen lassen und alle Willenskraft aus meinem Körper ziehen. Geist willig, Körper schwach, so ist es, ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, dass es mich wahrscheinlich umbringen würde, wenn ich es jeden Tag an mich heranließe.
Ich muss verdrängen, um irgendwie durchzukommen. Alles andere würde mich wahnsinnig schlecht drauf bringen. Ich muss verdrängen, dass mir wieder alle automatisch zuerst auf diesen Bauch gucken. Dass meine Freunde und Kollegen sich ihren Teil denken, ohne etwas zu sagen. Was haben die mich gelobt beim letzten Mal, mir Komplimente gemacht, es toll gefunden, dass ich den Arsch hochbekommen und mich deutlich reduziert hatte. Sogar ein bisschen attraktiv haben sie mich gefunden. Und jetzt: alles wieder da, alles umsonst.
Zur Person
Stephan Bartels, 1967 in Hamburg geboren, absolvierte 1996 die Henri-Nannen-Schule. Seit 1997 arbeitet er bei Brigitte, wo er Porträts und Reisereportagen schreibt, Interviews macht und sogar Modestrecken betextet. Sein erstes Buch, "Der Kilo-Killer", ist seit dem 16. Januar 2008 auf dem Markt.
Was ich nicht sehe, ist auch nicht da
Würde ich mich mit diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen, müsste ich mich permanent schämen. Jeder, der sein Problem nicht in den Griff bekommt, der seine Sucht nicht besiegt, ist in den Augen seiner Umgebung ein Versager, irgendwie. So funktioniert unsere Gesellschaft nun einmal, im Großen und im Kleinen. Und ich denke ja durchaus auch so, ob ich will oder nicht. Wenn ich denn denke. In meinem Fall versuche ich eben oft, das Denken zu unterdrücken. Vielmehr: das Nachdenken. Es ist ein bisschen wie bei kleinen Kindern, die, wenn sie Angst haben, einfach die Augen schließen: Was ich nicht sehe, ist auch nicht da.
Deshalb stelle ich mich auch nicht mehr auf die Waage. Ich habe gar keine. Meine letzte ist vor zwei Jahren kaputtgegangen, ich habe es nicht geschafft, mir eine neue zu kaufen. Das ist auch gut so. Erstens habe ich gelernt, dass das Gewicht nicht allzu viel darüber aussagt, wie ich mich fühle. Zweitens kann so eine Waage echten Terror ausüben, wenn die Werte nicht stimmen, eine dreistellige Anklage in LED. Und drittens habe ich andere Indikatoren. Meinen Kleiderschrank zum Beispiel, in dem die Grundausstattung für vier meiner Persönlichkeiten hängt, von M bis XXL. Ich habe einige Lieblingshemden, die ich manchmal anprobiere, in der Öffentlichkeit tragen kann ich sie seit ungefähr letztem September nicht mehr. Wenn ich den Bauch einziehen muss, um hineinzukommen, weiß ich, dass ich deutlich zu viel habe. Aber das heißt noch lange nicht, dass es mich alarmiert. Wenn ich aber nicht einmal mehr die Knöpfe zubekomme, dann ist Holland in Not. Das ist der Moment, in dem das System der gut geschmierten Ignoranz kippt - ins genaue Gegenteil.
Wenn ich mich entschließe, den Trend zu stoppen und umzukehren, dann sammle ich alle Informationen über meinen desolaten Zustand, die ich bekommen kann. Ich lasse meine Leute wissen, dass ich gerade mal wieder dabei bin, ein Bewusstsein zu entwickeln. Ich schaue in jeden verfügbaren Spiegel, ich probiere sogar die größten Jeans bei H&M an, ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn man sein Selbstbewusstsein steigern will - die sind mir immer noch zu klein. Mir jedoch geht es um etwas anderes: Ich will meinen Selbsthass befeuern, der latent in mir schlummert. Nur der kann mich durch die öden Monate einer Diät tragen, mich auf den Crosstrainer treiben.

Die Phase der Erkenntnis
Das Abnehmen entspricht beim Jo-Jo der Strecke nach oben. Sie ist mühsamer, läuft entgegen der natürlichen Erdanziehung und ist darauf angewiesen, dass man sich auf dem Weg nach unten genügend Schwung holt. Oder ist es mehr wie bei einem ICE, den man aus voller Fahrt abbremst, um ihn dann unter größtem Einsatz aller Maschinen wieder in die Gegenrichtung zu schicken? Manchmal erscheint mir das eine Bild passend, manchmal das andere. Nur: Keines der Bilder macht besonders große Freude. Sie sind beide von Anstrengung und Frustration bestimmt.
Apropos Freude: Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich mich zuletzt so richtig dünn gefühlt habe. Knapp zwei Jahre ist das her, ich hatte zum ersten Mal seit Jahren die 90-Kilo-Marke unterschritten. Ich weiß noch, dass mein erster Gedanke war: geil. Wie ich mir ein T-Shirt in M anzog und eine Jeans in 32 und aufrechten Gangs zum Bäcker lief. Und dann meinen zweiten Gedanken zuließ: scheiße. Ich wusste in diesem Moment, dass ich genau jetzt schon wieder auf dem Weg in die andere Richtung war. Die Spannung war von mir abgefallen, ich hatte mein Ziel erreicht, ab sofort würde ich wieder zunehmen. Das wusste ich einfach. Was soll ich sagen: Genau so war es.
Ich bin jetzt 42. Bisher hat mein Körper den gewichtsmäßigen Zickzackkurs noch einigermaßen mitgetragen, ich habe lange davon profitiert, dass ich eigentlich das Innenleben eines Leistungssportlers habe. Aber ich komme allmählich in ein Alter, wo starkes Übergewicht bedrohlich wird. Meine Mutter sagt mir seit geraumer Zeit, dass sie sich Sorgen macht. Sie weiß, wovon sie spricht, ihre Baustellen sind die gleichen. Ich habe ihre Bedenken lange ignoriert, aber mein Jo-Jo ist inzwischen knapp über dem Tiefpunkt, und zwar auf dem Weg nach oben. Ich befinde mich in der Phase Erkenntnis, weiß, dass ich etwas tun muss. Deshalb höre ich ihr jetzt anders zu, ich nehme diese unerhörte Anstrengung an, die es bedeutet, sich mit seinem Problem zu beschäftigen.
Irgendwann das Ziel erkennen
Und ich setze mir Ziele. Nicht in Kilogramm, sondern in Kilometern: Ich will in diesem Jahr zwei Jedermann-Radrennen fahren, 120 Kilometer in Berlin Ende Mai, 100 Kilometer in Hamburg Mitte August. Das bedeutet Arbeit. Viel Arbeit, harte Arbeit. In meinem aktuellen Zustand fühlen sich die drei Stockwerke zu meiner Wohnung an wie ein Gewaltmarsch auf die Zugspitze. Aber das wird schon. Ein Freund von mir wurde neulich in der Kantine angesprochen: Sag mal, Stephan hat ja wieder tierisch zugenommen … Ja, sagte mein Freund, aber der nimmt das auch wieder ab. Hat er mir hinterher erzählt, und die Lässigkeit in seiner Stimme zeigte mir deutlich: Das meint er auch. Das ist das Bild, das andere von mir haben. Er nimmt zu, na und? Er nimmt ja auch wieder ab, was soll's also. Und überhaupt: Ich würde auch mit ihm Schweine hüten, wenn er dick ist.
Denn das ist die andere Seite, und die verdränge ich leider genauso häufig wie meine Gewichtsproblematik: Ich bin verdammt noch mal mehr als die Summe meiner Speckrollen. Ich habe Menschen, die ich mag und die mich mögen. Ich habe einen klasse Job, der mich durch die Welt trägt und irre viel Spaß macht. Mein Verein ist auf dem Sprung in die Erste Liga. Ich habe viel mehr Dach über dem Kopf, als ich brauche. Was will ich denn noch? Muss ich auch noch in Röhrenjeans passen und einen Waschbrettbauch spazieren tragen? Reicht es nicht, dass ich ein netter Kerl in einem guten Leben bin?
Ich habe gerade das neue Buch von Susanne Fröhlich gelesen. "Und ewig grüßt das Moppel-Ich" heißt es*, es ist eine Art Fortsetzung ihres Bestsellers "Moppel-Ich". Es beschreibt ihr Leben im Jo-Jo-Modus, der auch sie voll im Griff hat. Und ist zudem eine wütende Anklage gegen die Art, wie mit Dicken umgegangen wird in unserer Gesellschaft. Wie sie beäugt und seziert und betuschelt und verhöhnt und verachtet werden. Sie hat recht, das ist so, ich habe es selbst erlebt. Sie fragt weiter, ob dieser Stress eigentlich bis ans Ende unser Tage sein muss. Und bilanziert für sich: nein.
Susanne Fröhlich ist eine erfolgreiche, selbstbewusste Frau. Sie kann es womöglich. Ich bin noch nicht so weit. Solange ich noch das Gefühl habe, dass ich das Jo-Jo hochschnellen lassen und im Griff behalten kann, so lange werde ich es wohl probieren. Aber ich gebe mich keinerlei Illusion hin: Ich werde kein dünner Alter sein, sondern einer mit Bauch und kaputten Knien. Irgendwann werde ich das erkennen und kapitulieren. Und dann an einem neuen Ziel arbeiten: diesen Scheiß endlich mit Anstand und Würde zu tragen.
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