Herr Rückert, viele Menschen schaffen es nicht, Dinge zu Ende zu bringen oder überhaupt anzugehen, die sie sich vorgenommen haben. Sie schieben sie immer wieder vor sich her. Ist das pure Faulheit?
Überhaupt nicht. Wer faul ist, würde die Anstrengung vermeiden und nichts anderes tun. Der typische Aufschieber wäscht stattdessen ab, um nicht am Schreibtisch sitzen zu müssen. Und dann kauft er ein oder räumt den Keller auf. Er macht alles, oft auch ungeliebte Tätigkeiten, solange er dadurch - etwas Belastenderes vermeiden kann. Danach belügt er sich und sagt "Ich war nicht in der richtigen Stimmung", "Morgen läuft’s bestimmt" oder "Ich muss erst mal ins Thema kommen".
Ist aufschieben denn immer negativ?
Nein, es kommt auf meine Ziele an. Wenn ich den Computerkauf bewusst um einige Monate verschiebe, werde ich vermutlich für weniger Geld einen besseren Rechner bekommen. Und die meisten anspruchsvollen Vorhaben muss man notwendigerweise aufschieben, wenn man sie erfolgreich verwirklichen will. Man kann nicht sagen: "Ich habe Lust, einen Roman zu schreiben, deshalb fange ich sofort an." Man braucht einen Plot, Ideen und Vorbereitungen. Auch eine Weltreise verlangt Aufschub, um sie zu planen. Insofern ist das Aufschieben nicht immer Zeichen einer Handlungsstörung.
Wann wird das Hinauszögern zum Problem?
Natürlich schieben wir alle immer mal etwas auf: den Schreibtisch aufzuräumen, die Schuhe zu putzen oder einen Brief zu schreiben. Das ist alltäglich und harmlos. Aber wenn wir immer wieder große Herausforderungen im Leben meiden, zum Beispiel die Situation in der Familie zu verbessern, eine neue Arbeitsstelle anzunehmen oder eine Fremdsprache zu lernen, stehen wir unserer eigenen Entwicklung im Weg. Fatal wird es, wenn wir gewohnheitsmäßig und scheinbar unnötigerweise Vorhaben um Tage, Wochen oder gar Jahre hinauszögern, die wir selbst als wichtig, vorrangig oder termingebunden einstufen. Dann geht irgendwann das Selbstwertgefühl baden, und wir fangen an, unter uns selbst zu leiden. Man hängt fest in einer Endlosschleife und nimmt sich das übel.
Kann aus der Gewohnheit ein krankhaftes Verhalten entstehen?
Durchaus, manchmal wird das Aufschieben zur Sucht. Ich kenne Kommunalpolitiker, die ständig neue Projekte anschieben und überall anzutreffen sind - dabei haben sie seit zehn Jahren nichts mehr richtig erledigt. Die müssen immer etwas Neues beginnen, um sich von den alten Baustellen abzulenken. Diese Menschen hängen an solchen Verhaltens-weisen wie Alkoholiker an der Flasche.
Welche Folgen kann diese Vermeidungstaktik für Psyche und Körper haben?
Das kann zu Angstzuständen und Depressionen führen. Und wenn ich bei körperlichen Beschwerden eine ärztliche Untersuchung aufschiebe, kostet mich mein Vermeidungsverhalten schlimmstenfalls sogar das Leben.
Viele Menschen schieben ihre Arbeit bis auf den letzten Drücker auf und können nur unter Spannung arbeiten. Warum ist das so?
Vermutlich müssen diese Aufschieber ein bestimmtes Erregungslevel erreichen, um eine Aufgabe motiviert anpacken zu können. Das schaffen sie, indem sie sich an einen Endtermin heranschleichen. Das gibt ihnen einen Kick, den entscheidenden Adrenalinstoß des Abenteuers. Das Hinauszögern bringt Aufregung in ihr Leben, die sie sonst eventuell vermissen.
Genießt diesen Druck auch jener Aufschieber, der sein Projekt niemals zu Ende bringt?
Nein, dieser Typ erlebt den Druck nicht als angenehm, sondern als ein diffuses Unbehagen. Deswegen ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, was dieses schlechte Gefühl auslöst.
Was treibt den chronischen Vermeidungsaufschieber zu seinem Verhalten?
Angst spielt oft eine entscheidende Rolle: die Furcht, sich mit einer schlechten Arbeit zu blamieren oder beim Chef mit dem Wunsch nach mehr Gehalt abzublitzen; die Angst vor dem Alleinsein oder zu viel Nähe; aber auch vor Erfolg. Wenn zum Beispiel die Mitarbeiterin eines Konzerns ein Projekt in Deutschland erfolgreich umsetzt, betraut ihr Chef sie womöglich mit einer größeren Aufgabe in China. Sie ahnt: Das könnte Stress geben mit dem Partner und der Familie - und lässt sich lieber in der Firma hängen. Viele Arbeitnehmer schieben auch aus Trotz auf, weil sie sich in der inneren Rebellion befinden. Sie fühlen sich nicht genügend wahrgenommen und wertgeschätzt, deshalb lassen sie die Arbeit liegen.
Aber es werden ja nicht nur lästige Dinge ausgesessen. Viele Menschen schaffen es nicht, endlich einmal ins Kino zu gehen, Schwedisch zu lernen oder einen Tangokursus zu belegen, obwohl sie das schon lange vorhaben. Wieso werden auch solche angenehmen Ziele vertagt?
Weil sie für die Betroffenen nur vordergründig angenehm sind. In der Psychologie wird zwischen starken und schwachen Intentionen unterschieden. Eine Faustregel besagt, dass wir nur Sachen machen, die mindestens zu 70 Prozent mit guten Gefühlen verbunden sind. Erreichen wir diese Quote nicht, wird es kritisch. Nehmen wir das Sprachbeispiel: Da habe ich ein Bild von mir, wie ich Schwedisch spreche. Es ist leicht, dieses Bild positiv libidinös zu besetzen: Ich gefalle mir in der Vorstellung. Aber ich muss es erst einmal lernen. Und lernen heißt, ich mache einen VHS-Kurs oder lese viele schwedische Zeitungen und schlage jedes Wort nach. Was vermeintlich lockend oder schön ist, also eine Weltreise machen oder eine Ferienwohnung auf Mallorca kaufen, kann mit unangenehmem Aufwand verbunden sein. Und weil der vielen zu groß erscheint, belassen sie es bei der Vision.
Aufschieberitis hat für die Betroffenen doch häufig negative Folgen: Ärger mit dem Professor oder dem Chef, wenn eine Arbeit nicht pünktlich fertig ist; Streit mit dem Partner, weil man immer noch nicht mit ihm zusammengezogen ist; und nicht zuletzt das schlechte Gefühl, dass man sein Pensum nicht schafft. Weshalb nimmt man das in Kauf?
Weil die Folgen des Aufschiebens erträglicher erscheinen als jene, die mutmaßlich eintreten könnten, wenn man ein Vorhaben realisiert. Zudem wirkt das Hinauszögern wie eine Belohnung: Dadurch, dass ich etwas anderes erledige, beschenke ich mich für die Flucht vor der eigentlichen Aufgabe. Dann schiebe ich, wie bereits erwähnt, womöglich zufrieden den Staubsauger über den Teppich, statt am Schreibtisch zu sitzen und einen Bericht zu schreiben. Andere essen oder waschen ab. Die Hände im warmen Wasser, das ist dann schon fast wie ein Vollbad. Hauptsache, sie kommen weg von der Arbeit. Das sitzt relativ schnell, denn unser Gehirn ist darauf geeicht, Belohnungen zu registrieren.
Und man wird beim Staubsaugen oder Aufräumen ja oft sogar doppelt belohnt, weil man etwas endlich erledigt hat, das vorher lange aufgeschoben wurde.
Richtig, das ist die strukturierte Aufschieberei, die sogar helfen kann. Dann sagt man sich: "Okay, das sind zwei Projekte, die ich vor mir herschiebe. Das eine ist, meinen Keller zu entrümpeln, und das andere, den Bericht zu schreiben. Und wenn ich nach einer halben Stunde am Schreibtisch merke, ich komme nicht weiter, entrümpele ich eben meinen Keller." Es ist immer klüger, zwei Dinge aufzuschieben, um nach solchen Situationen wenigstens eines dieser Vorhaben vom Zettel streichen zu können.
Das eigentliche Problem lässt sich auf diese Weise aber nicht lösen. Wie kann man sein Verhalten ändern?
Voraussetzung ist, dass der Betroffene sein Aufschiebeproblem registriert und sich dafür interessiert. Nicht einfach sagt: "Eigentlich sollte ich mehr tun", sondern sich fragt, warum er es nicht macht. Worin liegen die Motive dafür? Welche meiner Einstellungen begünstigen das Aufschieben, welche arbeiten ihm entgegen? Aus dieser Bewusstheit können bestimmte Aktionen folgen: Ich kann das Projekt endgültig von meiner To-do-Liste streichen, ich kann mir Hilfe holen oder kreative Ideen entwickeln. Ich kann mich fragen, ob das Ziel für mich noch wichtig ist. Viele Betroffene zögern Vorhaben hinaus, von denen sie sich innerlich längst verabschiedet haben. Aber sie aufzugeben, fällt ihnen auch nicht leicht. Zum Beispiel die Doktorarbeit, die sie schon 20 Jahre mit sich herumschleppen.
Sie empfehlen also, im Zweifel lieber aufzugeben als aufzuschieben?
Absolut. Hartnäckige Aufschieber sollten eine innere Inventur ihrer Vorhaben durchführen, statt sich immer nur mit dem Spiel: "Ich habe gute Vorsätze, setze sie aber nicht um" zu terrorisieren. So geht es den Leuten, die ihre Dissertation schließlich aufgeben, meist deutlich besser als vorher. Weil sie keine "Leiche" mehr im Keller haben, die sie quält.
Und wenn ich mich dafür entscheide, ein Ziel zu verwirklichen?
Dann überlege ich mir im Voraus genau, wie ich es angehen will. Bei großen Projekten ist es sinnvoll, ein paar Bögen Packpapier an die Wand zu hängen und darauf großflächig zu planen. So fällt es leichter, das Vorhaben in handhabbare Schritte zu zerlegen, die einfacher zu bewältigen sind. Außerdem kann man immer an diesen Plan treten und abhaken. Das allein ist unglaublich wirksam, denn so ein Ding an der Wand ist ein sichtbarer Beweis dafür, dass man schon etwas geleistet hat und strukturiert arbeitet. Davon profitieren Aufschieber massiv.
Aber mit so einem Plan ist noch nicht alles erledigt.
Nein, Aufschieber sollten die Fortschritte und Rückschläge ihrer Bemühungen regelmäßig schriftlich bilanzieren. Denn sie haben oft nicht gelernt, Prozesse über längere Zeit zu begleiten und sich dabei zu beobachten. Sie haben Ideen, die auftauchen, aber auch schnell wieder untergehen. Sie gucken nicht alle 14 Tage, wo sie stehen, und fragen sich nicht: Bin ich wirklich weitergekommen? Und wenn nicht, warum eigentlich? Und wenn ja, waren die Schritte ausreichend groß? Hat es Spaß gemacht? Dieses Auswerten im Nachhinein kann man mit großem Gewinn betreiben. Man nimmt sich eine Kladde, schreibt so etwas hinein und kann später leichter darauf zurückkommen.
Funktioniert das auch, wenn man sich beruflich neu orientieren will oder unzufrieden mit der Beziehung ist?
Klar, das hat man früher Tagebuchschreiben genannt. Bevor man halsbrecherische Aktionen startet, ist es eine gute Idee, in ein Tagebuch zu schreiben: "Wir müssten uns eigentlich mal um unsere Beziehung kümmern, tun es aber nicht." Dann die Fragen: Welche Wünsche habe ich? Welche Unzufriedenheit hat sich eingestellt? Warum finde ich es so schwer? Warum ist es so ein Angang? Was befürchte ich? Aufschreiben ist deshalb so gut, weil das Denken so beweglich ist. Man kann ganz viele Dinge auf einmal denken und nicht weiterkommen. Aber wenn man es aufschreibt und darüber noch einmal reflektiert, kommt man oft weiter
Können Freunde und Familie helfen, dem ewigen Aufschieben zu entkommen?
Ja, indem sie aufgeschlossen sind und nicht urteilen, wenn ein Betroffener sich ihnen anvertraut. Sie sollten nicht gleich mit Ratschlägen kommen und das Problem mit einem "Reiß dich mal zusammen" abtun, sondern sich Zeit für ein Gespräch nehmen und ein paar gute - Fragen nach den Ursachen und typischen Verhaltensmustern stellen. Sie könnten dem Betroffenen auch beim Bilanzieren helfen und ihn nach Absprache zum Beispiel jeden Sonntagabend fragen, wie die Woche gelaufen ist.
Sollten sie Druck ausüben?
Nein, Druck ist in solchen Angelegenheiten immer eine schlechte Idee. Es ist besser, das Problem bei dem Betroffenen zu belassen, sich aber dafür zu interessieren. Sonst wird man häufig schnell selbst in das Problem verstrickt.
Nun hat ein Klient in ihrer Beratung etwas über mögliche Gründe für seine Aufschieberitis gelernt. Er ist dazu angeregt worden, nach den Gründen für sein Problem zu forschen, seine Gewohnheit und seine Ziele zu überprüfen und seinen Alltag mithilfe von Plänen und Berichten neu zu strukturieren. Was geben Sie ihm zum Abschluss des Gesprächs mit auf den Weg?
Den Hinweis, dass er sich das Leben eine bestimmte Zeit lang schwerer machen muss, damit es nachher leichter fällt. Denn es ist eben nicht so, dass man sein Verhalten sozusagen im Schlafwagen ändern kann.
Hans-Werner Rückert,
Diplompsychologe und Psychoanalytiker, hilft seit Jahren als Leiter der Studienberatung und Psychologischen Beratung der FU Berlin Aufschiebern.
Sein Buch "Schluss mit dem ewigen Aufschieben. Wie Sie umsetzen, was Sie sich vornehmen" ist im Campus Verlag erschienen (282 Seiten, 17,90 Euro). © Klaus Lange