"Please horn, ok!", steht hinten auf den Lastwagen in Indien: Bitte hupen Sie, es ist okay! Das ist auf den ersten Blick so verwunderlich, als würde sich ein Mercedesfahrer hierzulande einen Aufkleber machen lassen: "Bitte zerkratzen Sie meinen Lack."
Gelassenheit kann man lernen, dachte ich, und wollte an die Quelle: Zwei Wochen mit ayurvedischen Massagen und Meditation in Indien. Über Gelassenheit hab ich viel gelernt, allerdings im Ashram weniger als im Straßenverkehr.
Alle hupen, und keiner ist beleidigt
Nach vielen Tagen des Sinnierens begann ich ansatzweise zu verstehen, dass Hupen in Indien völlig andere Dimensionen hat als in Deutschland. Wer in Deutschland hupt, ist im Recht, und alle, die sich angehupt fühlen, sehen sich in ihren Rechten beschnitten. So kann man hierzulande mit einem Druck auf sein Lenkrad etwa 20 Gallenblasen in der Umgebung direkt auspressen. In Indien nicht. Da hupen alle, und keiner ist beleidigt. Im Gegenteil, man wird dazu aufgefordert. Auf der Straße tobt nicht der Kampf ums Überleben, sondern der Tanz des Miteinanderlebens.
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Für diesen Tanz gibt es dort selbst auf der Autobahn keine vorgegebenen Spuren, die Spur entsteht beim Fahren. Gerade nachts in einem Auto zu sitzen ist sehr spirituell. "You are afraid my friend? You have to trust existence!" ("Du hast Angst mein Freund? Du musst der Existenz vertrauen!")
Selbst wenn der Hinduismus viel älter ist als die motorisierten Rikschas, beim Fahren wünscht man sich sehr sehr tief, dass dies nicht das einzige Leben für einen bleibt. Denn weil Scheinwerfer unnötig Batterie fressen könnten, wird die Beleuchtung nachts nur bei Bedarf eingeschaltet, wenn man irgendwie hört, dass einem da jemand entgegenkommt. Dann gibt es ein kurzes freundschaftliches Aufblenden, und anschließend rauscht man wieder unbeleuchtet aneinander vorbei. Will man überholen, wird dies durch Hupen angekündigt.
Vorfahrt für teure Autos
Vorfahrt hat grundsätzlich der mit dem teureren Auto. So ist jeder Inder zu einer sehr präzisen Abschätzung des Zeitwertes eines unvermutetet in den Verkehrsfluss einschneidenen Fahrzeugs in der Lage, und das in Sekundenbruchteilen, ehe es zum Bruch kommt. Diese Einschätzung allein würde einen Deutschen über Tage beschäftigen und wäre nur durch das Hinzuziehen mehrerer Sachverständiger zu klären, Rechtsweg nicht ausgeschlossen.
Und dann gibt es da noch die Hupe. Mit vielen Zwischentönen. Für uns Deutsche klingt Hupen gleichartig und aggressiv. Der Inder hält mit der Hupe Small Talk - ein Ton, völlig unterschiedliche Signale: TUT - Achtung, ich überhole rechts; TUT - ich fahre in eine nicht einsehbare Kurve, sehe aber nicht ein, nur deswegen schon meine Geschwindigkeit zu reduzieren. Bis hin zu TUT - ich wollte nur mal testen, ob meine Hupe noch funktioniert.
Selbst das Horn-Signal für Tiere auf der Fahrbahn ist unterschiedlich, die Intensität richtet sich in etwa nach dem Gewicht, von Katze über Hund bis zu den berühmten Kühen. Die haben selbst zwei Hörner, benutzen sie aber selten (Dieser Witz ist auf Englisch sehr komisch.). Kein Inder würde eine Kuh anfahren, so wenig wie ein Deutscher einen Hund. Eine Kuh steht auf der Straße und ist. Mit einem "s". Sie ist einfach da. Denn zu essen oder zu tun gibt es für sie auf dem Asphalt nichts. Der Genuss, anderen im Wege zu stehen, scheint nicht auf Homo sapiens begrenzt.
"Stille Nacht" beim Rückwärtsfahren
Das allerschönste Phänomen des indischen Straßenverkehrs bleibt allerdings das Rückwärtsfahren. Denn dabei ertönt eine elektronische Melodie, für alle, die hinter einem stehen, sitzen oder liegen könnten. Und - ungelogen - welches betörende Lied ertönt da beim Zurücksetzen inmitten des ohrenbetäubenden Chaos? Stille Nacht!