Götz Alys "Die Belasteten" Ein Buch gegen das Vergessen

Unter der Nazi-Herrschaft wurden Hunderttausende schwerkranker Menschen ermordet. Viele machten sich schuldig. Auch Familienangehörige sahen oft weg. Götz Alys "Die Belasteten" wagt den Blick zurück.

Gestern sind wieder die Autos da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt. Es wurde uns so schwer, dass wir alle weinten, und vollends war es mir schwer, als ich M.S. nicht mehr sah." Diese Zeilen schrieb ein verzweifelter Pflegling der Heilanstalt Stetten an seine Schwester. Tags zuvor waren erneut die grauen Busse in der Anstalt aufgetaucht. Patienten wurden zusammengetrieben und in die Busse verfrachtet. Die meisten ahnten, wohin die Reise ging. Es kam zu verzweifelten Auftritten. Eine junge Frau, eine "19-jährige Schwachsinnige höchsten Grades", entwischte, wurde aber von dem Transportpersonal wieder eingefangen. Ihre gellenden Schreie hallten durch den ganzen Hof. Eine andere Frau schlug die Arme in die Höhe und rief: "Ich will nicht sterben."

Solche Szenen spielten sich in den Jahren 1940 und 1941 überall in deutschen Heil- und Pflegeanstalten ab. 200.000 geistig und körperlich schwer Behinderte, aber auch angeblich "Gemeingefährliche" oder sogenannte Asoziale wurden von den Nazis ermordet. Die meisten von ihnen sind heute vergessen und totgeschwiegen, oft auch von ihren Familien. Der Historiker und Journalist Götz Aly ("Hitlers Volksstaat", "Warum die Juden? Warum die Deutschen?") gibt diesen Menschen nun in seinem Buch "Die Belasteten" eine Stimme. Es ist für den Preis der Leipziger Buchmesse (14. bis 17. März) nominiert.

Schluss mit der "verklemmten Diskretion"

Seit 30 Jahren forscht Aly über das Thema Euthanasie, angeregt auch durch persönliche Betroffenheit: Seine Tochter ist seit einer Gehirnhautentzündung direkt nach der Geburt schwer behindert. Aly kritisiert die "verklemmte Diskretion" mit der bis heute in Büchern und auf Denkmälern die Namen der Ermordeten schamhaft abgekürzt oder durch "alberne Ersatznamen" ausgetauscht werden: "Es ist an der Zeit, die Ermordeten namentlich zu ehren und ihre Lebensdaten in einer allgemein zugänglichen Datenbank zu nennen." Entsprechend enthält sein Buch nicht nur die Namen und Lebensdaten vieler Opfer, sondern auch persönliche Briefe und Aussagen von Patienten und Familienangehörigen.

Als "nutzlose Esser" und "Ballast" empfanden die Nazis pflegebedürftige Menschen, "Idioten" oder "Krüppel", wie es im damaligen Jargon hieß. Hitlers Leibarzt Theo Morell machte eine eiskalte Rechnung auf: "5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 Reichsmark = 10 Millionen jährlich. Bei fünf Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen." Nach einer solchen Kalkulation erschien der Erhalt des Lebens von Menschen auf angeblich "niedrigster tierischer Stufe" gerade in Kriegszeiten als unangemessener "Luxus".

Aly verschweigt nichts

Offiziell begann das große Morden im Herbst 1939. Unter dem Kürzel "Aktion T4" wurde eine effizient arbeitende Todesbürokratie in Gang gesetzt, die kaum auf Widerspruch stieß. Aly verschweigt nicht das Wegschauen, die stillschweigende Duldung oder gar das Komplizentum betroffener Angehöriger. Die Nazis hatten durch Fragebogenaktionen zuvor schon ausgelotet, wie weit sie gehen konnten.

Nur eine kleine Minderheit der Angehörigen - unter zehn Prozent - legte scharfen Protest ein. In einem Fall etwa schickte eine empörte Mutter, deren Sohn in die Vergasungsanstalt Grafeneck deportiert worden war, ein Telegramm an Hitler persönlich. Sie rettete ihrem Sohn tatsächlich das Leben. Er wurde noch am gleichen Tag in sein Pflegeheim zurückverlegt. So gut wie immer war das energische Eingreifen von Verwandten erfolgreich - es geschah nur zu selten. Die meisten wollten es nicht genauer wissen, gaben sich mit der Auskunft zufrieden, dass der Patient an einer Lungenentzündung oder Grippe gestorben war und nicht lange leiden musste.

Den einzig wirklich überzeugenden Widerstand leistete bekanntlich der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen. Er sprach in seinen Predigten offen und "mit vollem persönlichen Einsatz" von Mord. Das Regime schäumte, fand den populären Kirchenmann "reif für den Staatsanwalt", ließ ihn aber unbehelligt. Die Mordaktion wurde abrupt gestoppt. Die "Aktion T4" war nach Darstellung von Aly für die Nationalsozialisten ein Vorspiel zum Holocaust, das in ihrem Sinne erfolgreich verlaufen war: "Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen." Die Geschichte gab ihnen leider Recht.

DPA
Sibylle Peine, DPA