Als er sich selbst im Film sah, mal stammelnd, mal klagend, dann wieder kurz mit jener Schlitzohrigkeit, die noch allemal das Überleben gesichert hat, da befand Norbert Witte: Der Schnurrbart muss ab. Macht zehn Jahre jünger, findet der passionierte Schausteller, mindestens. Nach der Premiere des Dokumentarfilms "Achterbahn", der den abenteuerlichen Aufstieg und fantastischen Fall Wittes erzählt, hat er noch lange im Kino ausgeharrt und freundlich Fragen beantwortet. Das war einer dieser Abende, nach denen sich Witte sehnt, die er schmerzlich vermisst. Da stand er, 54 bewegte Jahre alt, der Sprücheklopfer mit dem unverwüstlichen Flittercharme des Rummelplatzes, mal wieder da, wo er sich gut findet: im Rampenlicht.
"Achterbahn" von Peter Dörfler ist, extrem klug montiert, ein Genre-Mix wie Wittes Leben selbst. Da trifft die irrsinnige Provinzposse - obwohl oder gerade weil es um das Berlin der Nach-Wende-Zeit geht - auf den Krimi, die Familientragödie mischt sich mit dem Knast-Drama, die Hochstapler-Komödie ist stets mit dabei. Der Zuschauer muss grinsen, heulen, schimpfen, dann wieder grinsen, unberührt dürfte kaum einer bleiben.
Der Kern der Geschichte: Norbert Witte, der Junge von der Losbude, umwirbt die Pia vom Autoscooter, er tut es hartnäckig und erfolgreich. Beide kommen sie aus altem Schausteller-Adel, und in diesen Kreisen ist man sich einig: Die energische dunkle Schönheit würde den kleinen Ehrgeizling auf Trab bringen, aber auch vor den schlimmsten Kapriolen bewahren. Das hat ja dann auch lange Jahre ganz gut geklappt. Frühe Heirat, gute Geschäfte.
Hamburg als Schau(steller)platz der Katastrophe
Alles weist nach oben, bis Witte während des "Hummelfests" auf dem Hamburger Heiligengeistfeld spätabends am 14. August 1981 vom Kran aus sein Schmuckstück, das Looping-Karrussell "Katapult" reparieren will. Er glaubt, das benachbarte Flugkarrussell "Skylab" habe schon Schluss gemacht. Doch als dort ein paar späte Bummler drängeln, setzen sich die Gondeln für eine letzte Fahrt in Bewegung – und krachen gegen den Ausläufer des Krans. Sieben Menschen sterben, Norbert Witte wird wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Der Kran war nicht versichert, Witte ist pleite und bekommt fortan keine Plätze mehr bei deutschen Volksfesten. Die Familie tingelt mit ein paar Fahrgeschäften durch Südeuropa, bis das Ende der DDR neue Chancen eröffnet.
Witte macht die Ehe- auch zur Strohfrau und bewirbt sich als Pächter für den ehemaligen "VEB Kulturpark Berlin" im Plänterwald an der Spree in Treptow, dem einzigen real existierenden Vergnügungspark auf DDR-Boden. 1969 eröffnet, mit bis zu drei Millionen Besuchern pro Jahr ist der ein echter Publikumsmagnet, über 30 Hektar. Eigentlich ist der Park gleich mehrere Nummern zu groß für Witte, aber mit grünen Plänen und guten Worten klappt's dann auch mit dem Senat. 1997 erhält die Spreepark GmbH einen Erbbaurechtsvertrag.
Von einem, der auszog, das Vergnügen zu lehren
Von nun an geht's bergab. Die Besucherzahlen sinken, die Behörden ordnen großräumig Parkverbote rund um den Park an, die Banken schießen munter Geld nach, Witte baut und plant und tobt. Er zahlt keine Pacht mehr, will den Vertrag kündigen, die Stadt lehnt ab, der Spreepark schließt Ende 2001. Im Januar 2002 baut Witte sechs Fahrgeschäfte ab und lässt sie nach Lima transportieren, wo er mit Pia und fünf Kindern neu anfangen will. Aber das rostfreundliche Klima und der nimmersatte peruanische Zoll machen die feinsten Pläne vom Aufbau Süd zunichte, während sich in Berlin der Insolvenzverwalter mit elf Millionen Euro Schulden, Gläubigern und Gammel-Park herumschlägt.
Im Herbst 2003 heißt es in Lima "Kommando zurück", aber der bittere Paukenschlag kommt noch. Witte, halb zog es ihn, halb drängte man ihn zum Deal, will erst Rohgold, dann 167 Kilo Kokain im Gestänge seines "Fliegenden Teppichs" nach Europa schmuggeln: "Wenn Sie mit einer kriminellen Sache anfangen, ist der Weg zur nächsten Straftat nicht weit." Doch längst ist ein Maulwurf der peruanischen Polizei mit im Spiel, alles fliegt auf und Witte um die Ohren. Dass er selbst, schwer herzkrank, in Berlin verhaftet und später verurteilt wird, wäre ihm, einer launigen Ausrede nie abgeneigt, selbst wohl als "Künstlerpech" durchgerutscht.
Dass aber der eher zufällig in das Schlamassel geratene Sohn Marcel, mittlerweile 28, in Lima seit diesem November 2003 in einem nahezu mörderischen Gefängnis sitzt, verurteilt zu 20 Jahren Haft - das kann der schnoddrigste Macker nicht als bloßen Griff zur Niete abtun. Dass er seinen Sohn nicht rausgehalten hat, kostete ihn - neben amourösen Abweichungen - seine Ehe mit Pia und zeitweilig den Restrespekt der anderen Kinder. Bei "Achterbahn" wollte sich nur Tochter Sabrina (23), eine Art Vermittlerin zwischen den Eltern, vor der Kamera zeigen, ihre jüngeren Geschwister hielten sich raus.
Seit Sommer 2008 ist Norbert Witte aus der Haft entlassen. Da wurde das Insolvenzverfahren der Spreepark GmbH - gutes Timing - gerade mangels Masse eingestellt. Nun lebt Witte wieder auf dem Gelände im Plänterwald, umgeben von niedergestreckten Riesen-Dinos, einem rostigen 45-Meter-Riesenrad und allerlei anderen malerischen Ruinen. Der Laie wundert sich, doch Fachleute wissen, dass in einem solchen Fall der alte Eigner wieder in das Erbbaurecht eintreten kann.
Und solange sich weder der Senat noch ein neuer Investor - die Rede ist gerade sinniger Weise von einem "Lost World"-Park mit Stonehenge-Nachbauten und Maya-Tempeln - dazu entschließen mag, die Alt-Schulden zu übernehmen, sitzt der alte König mit neuer, hübscher junger Freundin in einem Wohnwagen inmitten des Totalschadens. "Wie im Zauberwald, wie verflucht", findet er. Wer will, könnte Tage lang mit ihm Papiere wälzen, die seine Unschuld belegen sollen. "Ich hab's nicht hingekriegt", sagt Witte noch im Film, aber jetzt ist er schon wieder mutiger: "Man hat es mich nicht hinkriegen lassen", heißt es nun, "das ist hier echt so 'ne Verscheißer-Arie gewesen über die vielen Jahre" und "das war eine gewollte Pleite".
Der Mann, unverbesserlicher Raucher, ist auf seiner persönlichen Achterbahn schon wieder im Auftrieb. "Es war nicht alles schlecht an meinem Starrsinn", kommentiert er glücklichere Lebensphasen, aber als Kerl alter Schule käme man auch nicht mehr so gut klar. "Man sollte wissen, wann es besser ist, aufzugeben", lautet die verspätete Lehre aus dem peruanische Desaster, doch "ich habe nie aufgegeben, das war nicht mein Ding. Ich war immer überzeugt, dass man mich runterprügeln kann, und ich komme trotzdem wieder auf die Beine." Wo sieht er sich denn jetzt, auf welchem Level, von 0-10? "Ach, du meine Güte – dann bin ich bei 1", sagt er. Aber das ist erkennbar Bluff, er guckt schon wieder wie 3,5.
Nicht ohne meinen Sohn
Die Hauptschuld aber, weiß auch er, ist noch offen. Marcel muss raus. Diese Verpflichtung, "das war das Einzige, was mich in den ersten Monaten im Knast davon abgehalten hat, mir 'nen Strick zu nehmen", berichtet Witte, glaubhafter denn je. "Ohne das wär mir alles scheißegal gewesen ... zehn oder zwölf Jahre in so 'ner Zelle 'rumeiern, das hätte ich nicht gemacht, niemals." 250 Dollar pro Monat kostet die "Miete" eines lebenswichtigen Einzel-Verschlags im Gefängnis am Rande von Lima, wo Marcel einsitzt - von sonstigen "Gebühren", die im Justizapparat versickern, ganz zu schweigen.
Ein Auslieferungsabkommen zwischen Deutschland und Peru gibt es nicht, aber in letzter Zeit immerhin Kontakte zwischen dem Auswärtigen Amt und den Behörden vor Ort. "Das werden noch zähe Verhandlungen bis zur Überstellung", glaubt Wittes Anwalt Adrian Stahl. So lebt - noch so ein kafkaesker Moment in dieser Geschichte - Norbert Witte mit seiner Ex-Frau in einer Gemeinschaft, die zwingender ist als jede Ehe und jede Distanz.
Wenn Marcel erst mal raus ist, fängt alles, das Leben, der Rest davon, der hoffnungsvolle Rest davon, überhaupt erst an. Vielleicht doch noch mal ein Park, kleiner, irgendwo auf dem Lande, wo sie ihn willkommen heißen. Nur der Spreepark, nee, bloß nicht, da können die Kinder noch so drängeln. Und weil der Mensch ja nicht von Selbstvorwürfen allein lebt, hat Witte auch schon wieder "ein paar Projekte in der Mache"; einstweilen baut er mit vier Helfern transportable hölzerne Ausschankbuden. Läuft ganz gut, meint er: Einmal Schausteller, immer Schausteller, was soll man sonst tun? Schausteller, die nicht ganz so poetisch besungenen Brüder des Zirkusvolks, leben auch von Illusionen. Und die Gierigen, die Größenwahnsinnigen, die leben von ihren persönlichen Traumbildern. "Ich wollte immer groß sein", sagt Witte, "schon Platz zwei hat mich nicht mehr interessiert".
Die Staatsanwältin aus seinem Drogenprozess hat 2004 gesagt, Norbert Witte habe "an der Wahrheit entlang" ausgesagt. Im Sommer 2009 berichtet Witte, den viele Weggefährten für einen wortgewandten Scharlatan halten, von seinem Leben. Man wüsste wohl auch nach ewigem Aktenstudium nicht genau, was an diesem Mann Schwindel ist, was Schicksal und was Autosuggestion. Schon wieder mehr der Opferrolle als der zerknirschten Reue zugeneigt, kommt in einem kleinen Versprecher so zufällig wie treffend ein Motto ans Licht. Von seinen Visionen will Witte sprechen, doch er sagt, wahrscheinlich treffender: "Man muss auch Versionen haben dürfen ..."