"The Tipping Point" bezeichnet den Wende- oder Umschlagspunkt einer Epidemie. Zunächst gibt es nur einen Überträger des Virus'. Dann sind es zwei, vier, acht, sechzehn und so fort. Wenn ein kritischer Punkt überschritten wird, breitet sich das Virus rasend schnell und überfallartig aus. Ein einziger Überträger reicht aus, ganze Gesellschaften zu infizieren.
Der amerikanische Journalist Malcom Gladwell gab seinem jüngsten Buch diesen Titel. Dem Reporter des "New Yorker" geht es darum zu zeigen, dass auch "soziale Epidemien" auf diese Weise entstehen. Ein unbedeutender Auslöser, ein kleine Veränderung und schon steigt die Zahl der Infizierten sprunghaft an. Mit Ideen kann es so sein, mit sozialen Missständen wie Drogenkonsum oder Kriminalität, mit Moden, mit politischen Ansichten oder auch dem Erfolg der Sesamstraße. Ihre Verbreitung funktioniert nach den Prinzipien einer Epidemie. Sagt Gladwell.
"Positive" Epidemien verbreiten
Die amerikanische HipHop-Band The Roots aus Philadelphia hat ihr mittlerweile siebtes Album, das jetzt erschienen ist, "The Tipping Point" genannt. Das Cover ist einem Porträt des radikalen Schwarzenführers Malcolm X nachempfunden. Denn einem Anliegen von Gladwells Buch haben sich The Roots verschrieben. Wie können "positive" Epidemien in Form von politischen oder sozialen Ideen verbreitet werden?
The Roots sind dafür ein ideales Wirtstier, vielleicht sind sie ja selber auch das Virus. Sie sind eine politische Band. Drogenpolitik, die amerikanische Waffenlobby und Rassismus - nichts lässt Black Thought, Texter und Stimme der Band, aus, um es an den Pranger zu stellen. In einem Refrain heißt es: "Yo, it's a fucked up job, but somebody's gotta do it". Es ist ein Scheiß-Job. Aber irgendjemand muss schließlich sagen, was wirklich in der amerikanischen Gesellschaft los ist.
Jahrelang galt die Band als Geheimtipp. Sie waren und sind die Lieblinge der Kritiker, weil sie eine große Ausnahme in der Welt des HipHop darstellen. Sie sind eine richtige Band und sie spielen ihre Instrumente selbst. Ihre Live-Auftritte, von denen sie seit ihrer Gründung 1987 rund 200 jährlich absolvierten, sind legendär: "Wir mussten immer so viele Konzerte spielen, um finanziell über die Runden zu kommen", sagt ?ustlove, Mastermind und Schlagzeuger der Band. Kein Vergleich zu anderen HipHopern, deren Auftritte mit Turntables und Mikro irgendwann langweilen. Nur Hüpfen bringt es eben nicht auf Dauer.
"Phrenology" war extravagant
Die Qualität ihrer Alben litt unter dem ständigen Tour-Stress. Immer auf den Bühnen der Welt unterwegs fehlte die Zeit für ausgefeilte Studioproduktionen. The Roots schienen das Schicksal vieler guter Live-Bands zu ereilen, deren Energie und Sound nie auf CD transportiert werden konnten. Dann kam "Phrenology". Vor zwei Jahren veröffentlicht, holte dieses überragende Album die Band aus dem Untergrund. HipHop mit viel Soul, Funk, Jazz und ein bisschen Hardcore-Punk dazwischen: Extravagant nannte das ein Kritiker.
Danach wurde ihre Plattenfirma vom Musikkonzern Interscope übernommen - sie überlebten die Entlassungswelle, bekamen den Auftrag, innerhalb eines halben Jahres ein neues Album aufzunehmen und das nötige Geld, um keine Konzerte spielen zu müssen. Also jammten sie drauf los und produzierten erstmal 80 Stunden Musik. Das Beste davon ist jetzt auf "The Tipping Point" zu hören. Gleichförmiger als "Phrenology", aber aus einem entspannten und immer noch sehr souligen Guss.
Die erste Single-Auskopplung "Don't say nuthin" ist eindeutig als Hit programmiert. Ein cooler, eingängiger Beat, entstanden in Zusammenarbeit mit dem früheren Mitglied Scott Storch, der heute als Produzent die Sounds von Größen wie Beyonce Knowles oder Justin Timberlake kreiert. "'The Tipping Point' soll der endgültige Durchbruch werden. Dafür machen wir jede Radio-Show und jede MTV-Aktion mit, die hilft, dieses Album zu verkaufen", sagt ?ustlove.
Auch triefender Cool Jazz ist im Angebot
Auf dem Album gibt es wieder eine ausgeprägte Bezugnahme auf die Größen von Soul und Funk. Der Auftakt-Song "Star" ist mit einem Sample von Sly & The Family-Stone unterlegt und kommt eher ruhig daher. Überhaupt ist das Album wesentlich unaufgeregter als sein Vorgänger. Aber auch tanzbar. "I' don't care" ist mit einem Soul-Dance-Beat unterlegt. Auch triefender Cool Jazz ist mit "Stay cool" im Angebot.
The Roots erfüllen alle Erwartungen. Und definieren HipHop streng in Abgrenzung zum Mainstream-Pop. In "Star" heißt es schlicht: "You know why we all stars/And are highly evolved/HipHop it's not pop/ Like Kylie Minogue." In diesem Sinne haben sie wieder ein Virus unter die Leute gebracht. Hoffentlich infizieren sich möglichst viele.