Popmusik Französische Evolution

Von Andrea Ritter
"Je t'aime" war gestern - mit neuen Künstlern und neuen Chansons rehabilitiert Frankreich seinen Ruf als Musiknation.

Es gibt Wörter, die lösen bei Männern schlüsselreizartig einen Grunzlaut aus. Geschwindigkeit und Stärke des Grunzlauts sind allerdings abhängig vom Kontext: Es könnte also sein, dass Männer bei dem Wort "Odonkor" momentan schneller und lauter grunzen als bei, sagen wir mal, "Penélope Cruz". Es gibt aber auch ein Wort, das den Reiz zu allen Zeiten gleich stark auslöst, den Klassiker unter den Grunzlaut-Auslösern, und dieses Wort heißt: "Französin".

Französinnen nämlich, so geht die Mär, tragen immer Kleidergröße 34 und nie Turnschuhe. Sie sind ziemlich rehäugig und ein bisschen verrucht, und sie haben schon damals beim Schüleraustausch so niedlische Sachen ins O'r ge'aucht wie Vanessa Paradis ins Mikro.

Aber das ist jetzt vorbei: Fiepen à la "Joe le Taxi" gibt es nicht mehr. Die neuen französischen Sängerinnen wie Camille, Sandrine Kiberlain oder Françoiz Breut sind ganz anders. Die meisten von ihnen viel besser. Und, keine Sorge, tolle Frauen bleiben sie immer noch.

"Ich finde es lustig, eine Männerfantasie zu sein", sagt die 26-jährige Camille, die mit zwei Alben und ihrer Mitarbeit an dem Cover-Song-Projekt "Nouvelle Vague" europaweit für Furore sorgt. "Allerdings nur für fünf Minuten." Vielleicht muss man sie auf der Bühne gesehen haben, um diesen Satz zu verstehen. Barfuß und im weißen Kleidchen steht sie da, wie einst die junge Jane Birkin. Doch sie seufzt kein "Je t'aime" - sie gurgelt, knarzt und schnalzt, ist Instrument und Sängerin in einem. Springt wild auf der Bühne herum, singt dann wieder zarte Melodien und ist dabei so eigenwillig und komisch wie derzeit kaum eine andere Frau auf der Bühne. "Postmodern" oder einfach nur "ein bisschen von allem" nennt Camille, die erst Politik und dann Kunst studiert hat, ihren Stil. "Nouvelle Chanson" oder auch "Néo-Chanson" nennt es die französische Presse.

Natürlich gehören zu der neuen

Szene nicht nur Frauen, sondern auch schmucke Sänger wie Vincent Delerm, Dominique A oder Mickey 3D. Dass ihre Musik nun in deutschen Clubs hoch und runter läuft, ist in erster Linie zwei Kölnern zu verdanken: Oliver Fröschke und Rolf Witteler. Im Herbst 2002 brachten sie ihre erste Franzosen-Compilation raus, die sie schlicht "Le Pop" nannten, inzwischen gibt es drei davon. Die vierte ist gerade in Arbeit, und das Interesse wächst. "Wie bei jeder neuen Musikszene kommen die meisten Künstler aus dem Underground", sagt Rolf Witteler. "Wir beobachten das schon seit Anfang der 90er Jahre. Da gab es eine Zäsur: Französische Musiker fingen an, eigene Stile zu entwickeln, statt anglo-amerikanische Bands zu imitieren. Aber es dauert natürlich ein wenig, bis das so ausgereift ist, dass es sich durchsetzen kann."

Eine, die nicht aus dem Underground kommt, ist die Schauspielerin Sandrine Kiberlain. Sie sagt, sie hätte ohne Vorreiterinnen wie Carla Bruni oder Camille niemals zum Mikrofon gegriffen. "Nouvelle Chanson - das ist eigentlich nichts anderes als die Rückbesinnung auf Lieder mit Charakter", sagt sie. "Es liegen zwar Welten zwischen den einzelnen Künstlern, aber das Gemeinsame ist die Rückkehr der Persönlichkeit. Der künstlerische Ausdruck ist wichtiger als schöne Stimmchen oder aufwendige Arrangements. Das hat sonst eigentlich nur Françoise Hardy geschafft. Die anderen Frauen haben meist interpretiert, was ein Mann geschrieben hat."

Mit ihrem Album "Manquait plus qu'ça...", was auf Deutsch so viel heißt wie "Das fehlte ja gerade noch", gehört Sandrine Kiberlain eher zu den harmonisch-poppigen Sängerinnen. Doch auch auf der experimentellen Seite ist Frankreich mit Künstlern wie Sebastien Tellier, Damien oder der ehemaligen Nouvelle-Vague-Sängerin und jetzigen Brachial-Elektro-Musikerin Sir Alice auf dem Vormarsch. Ende August wird sich übrigens eine Künstlerin zurückmelden, die den Generationswechsel auch biologisch verkörpert: Charlotte Gainsbourg, Tochter von Jane Birkin und Serge Gainsbourg, veröffentlicht nach 20 Jahren ihr neues Album.

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