Eigentlich ist der erste Song auf dem Album "Sticky Fingers" der gute alte Stones-Heuler "Brown Sugar". Eigentlich. Meine "Sticky Fingers" beginnt jedoch anders. Wenn ich diese Platte aus einer Zeit, wo es einem noch nicht peinlich sein musste, die Rolling Stones gut zu finden, in meinen CD-Player schiebe, drücke ich schon reflexartig Taste 2, um genüsslich mit "Sway" zu beginnen.
Warum ich mit "Sway" in diese herrliche Platte starte? Wahrscheinlich bin ich noch aus dem Kassetten-Zeitalter konditioniert. Ich weiß nicht mehr, warum ich damals, als ich die Platte mit dem etwas sonderbaren Cover in die Finger bekam, den ersten Track beim Überspielen wegließ.
Ob es daran lag, dass ich "Brown Sugar" einfach schon viel zu oft gehört hatte, oder ob es schlicht und ergreifend Platzmangel auf der Kassette war - seither jedenfalls begann "Sticky Fingers" für mich immer mit "Sway". Und dabei ist es geblieben. Aus der Not ist eine Tugend geworden. Ein anderer Start dieser Platte ist für mich seitdem schlicht nicht mehr vorstellbar. "Brown Sugar", nein, dieser Song passt einfach nicht auf "Sticky Fingers".
"Sway" - kein anderer Track auf dem Album läutet so perfekt das wahre Feeling der an für sich sehr untypischen Stones-Platte ein, wie dieser schwerfällig dahinwankende Bluesrock. Das hibbelige Gute-Laune-"Brown-Sugar" gibt einem den völlig falschen Start, suggeriert einem, hier eine rockige, "stonesige" Platte vor sich zu haben, was "Sticky Fingers" aber definitiv nicht ist.
Legendäres Reißverschluss-Cover
Andy Warhol kreierte das Cover, bei dem einem auf der Vorderseite der Unterleib eines Jeansträgers und auf der Rückseite der dazugehörige Hintern entgegenprangt. Soweit so gut, alles ganz normal, möchte man denken. Aber es ist wohl diese Perspektive und nicht zuletzt die sich deutlich abzeichnende Körperwölbung hinter dem - natürlich zugezogenen - Reißverschluss, die einen irgendwie irritiert. In einer kunstvoll ausgeführten limitierten Edition des Schallplatten-Covers war tatsächlich ein echter Reißverschluss eingearbeitet gewesen. Zog man ihn auf, grinste einem frech die unverkennbare knallrote Stones-Zunge entgegen. Verhalten und verträumt wie der Besitzer dieser Jeans möglicherweise dreinschaut, wenn man doch nur sein Gesicht sehen könnte, aber auch so frech und aus dem Bauch heraus wie die Zunge, die da aus dem Hosenlatz heraus lugte - das ist "Sticky Fingers".
Mit "Sway" wird man von der herrlich säuselnden Blues-Gitarre Mick Taylors hinein geschaukelt in eine melancholisch-wattierte Stimmung. "Sway" gibt das Tempo vor, bremst einen regelrecht aus, schaltet den Stoffwechsel um mindestens zwei Gänge herunter, bereitet vor, auf das, was da noch kommt. Ein Song, bei dem man sich setzen und den Kopf anlehnen möchte, trotz des dramatischen langen Gitarrensolos am Ende. Mit dem darauffolgenden "Wild Horses" schlägt "Sticky Fingers" eine noch ruhigere Saite an, um einen dann aber urplötzlich wieder mit dem zuerst rockigen und dann immer bluesigeren "Can't You Hear Me Knocking" wachzuklopfen. "You Gotta Move" schließlich ist rotzig, "Bitch" sogar unverschämt. "Sticky Fingers" selbst ist eine "Bitch" - erst bremst sie einen auf Zeitlupe runter, dann beschleunigt sie schon wieder.
Kommen wir in das letzte Drittel von "Sticky Fingers". Das klingt großartig verliebt, dann verrückt, dann sarkastisch und zuletzt ganz ganz verträumt aus. "I Got The Blues" ist zaghaft, schüchtern und zugleich bestimmt. Als wenn wir jemals daran gezweifelt hätten, dass Mick Taylor, der geniale Gitarrist, dessen Spuren überall auf diesem Album zu finden sind, den Blues nicht haben könnte! Keine andere Platte der Stones ist so bluesig wie diese. Und ihm alleine, der 1969 nach dem tragischen Tod des Gründungsmitglieds Brian Jones, die schwere Nachfolge antrat, ist dieser unvergleichlich schwermütige Sound von "Sticky Fingers" zu verdanken. Mick Taylor war der beste Gitarrist, den die Stones jemals hatten, und zugleich auch der Gitarrist, der am wenigsten zu ihnen passte.
Jung, naiv und unbedarft trat der ruhige und sensible Taylor 1969 der schmutzigen Rockertruppe um die beiden exaltierten Frontmänner Mick Jagger und Keith Richards bei, um nur wenige Jahre später gekränkt, drogenabhängig und am Ende seiner Kräfte die Band wieder zu verlassen.
Seine Drogenerfahrungen hat Taylor jedoch bei dem verstörend-gläsernen Gitarrenspiel von "Sister Morphine" - einem Song wie aus einem fernen Land jenseits der hintersten Ecke des menschlichen Unterbewusstseins - nicht einfließen lassen. Hier gab der berühmte Slide-Gitarrist Ry Cooder ein eindrucksvolles Gastspiel. Hat man den "Sister Morphine"-Trip überstanden, lichtet sich die dunkle Wolkendecke wieder etwas auf mit der zynischen aber leichten Country-Satire "Dead Flowers". Herrlich anzuhören ist der überzogene Südstaaten-Akzent, den der Brite Jagger darauf bemüht. Müde und zufrieden legt sich "Sticky Fingers" dann im weichen Schneebett von "Moonlight Mile" schlafen.
Wer jetzt noch keine "klebrigen Finger" hat, der bekommt sie nicht mehr. Aber all den anderen - denen wird "Sticky Fingers" nicht mehr so leicht aus denselben entgleiten.
Jens Lubbadeh