Ein Herbsttag im irischen Ballinasloe. Durch die 6500-Seelen-Stadt pfeift ein kalter Wind, doch statt mit Jacke und Schal schlendern viele junge Frauen in glamourösen Outfits über Europas ältesten Pferdemarkt: kurze Röcke, bauchfreie Tops, volles Make-up, falsche Wimpern. Sie flanieren in Gruppen, flirten mit den gleichaltrigen Jungs – und auch mit der Kamera der Fotografin Michele Zousmer. Hand auf die Hüfte, Schulter nach vorn, dazu ein Schmollmund. Selbst kleine Mädchen üben die Posen, die sie sich von den großen Schwestern und Cousinen abgeschaut haben.
Und doch täuschen die Bilder der selbstbewussten jungen Frauen: Die Community der Irish Traveller, zu der sie gehören, ist eine der am stärksten diskriminierten Minderheiten Europas. Sie macht 0,6 Prozent der irischen Bevölkerung aus, ist streng katholisch und kann wegen ihres bislang vorwiegend nomadischen Lebensstils vor allem in der älteren Generation nicht lesen oder schreiben. Die Kinder werden in der Schule oft ausgegrenzt und gemobbt. 80 Prozent der Männer sind arbeitslos.
Die pompösen Kleider sind ein Ausbruch aus der Realität des Elends
Alljährlich im Oktober treffen sich in Ballinasloe im County Galway die Großfamilien der irischen Traveller. Sie kommen aus allen Teilen Irlands und Großbritanniens. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren zehn bis 15 Kinder je Sippe nicht unüblich.
Zousmer interessieren vor allem die Mädchen und Frauen der Gemeinschaft. "Ausgegrenzte Minderheiten waren schon immer Schwerpunkt meiner Arbeit", sagt die Fotografin aus San Diego, Kalifornien, die sich in ihrer Heimat mit Projekten über weibliche Gefängnisinsassen einen Namen gemacht hat. "Ich versuche mit meinen Bildern, Stereotype zu durchbrechen, diesen Menschen eine Stimme zu geben."
Strom ist nicht selbstverständlich. Manche Familien haben nicht mal ein Badezimmer
Dabei waren es Klischees und Stereo-type, dank derer Zousmer überhaupt auf die irischen Traveller aufmerksam geworden war. "Ich sah eine britische Reality-TV-Show über die großen Hochzeiten und Feste, die diese Community feiert, und war fasziniert von den Frauen mit ihren großen Persönlichkeiten und ihrem überschwänglichen Stil." Die Sendung, von der Zousmer spricht, heißt "My Big Fat Gypsy Wedding" und ist ein ziemlich voyeuristischer Blick auf die Vorbereitungen der legendären Hochzeiten und Kommunionen des "fahrenden Volkes". In Irland und im Königreich wird die Serie kontrovers diskutiert, weil sie die in der Gesellschaft ohnehin ausgeprägten Vorurteile über die in Großbritannien lebenden sogenannten Romani Gypsies und eben auch irische Traveller verstärkt. Vor acht Jahren reiste Zousmer erstmals nach Ballinasloe. Sie kam dort schnell mit den Frauen ins Gespräch: "Ich empfand sie als sehr herzlich und offen." Was sie vorfand, war eine patriarchale Gesellschaft, in der Mädchen von klein auf indoktriniert werden: "Ihr ganzes Leben dreht sich einzig darum, zu heiraten und eine große Familie zu gründen."
Oft verlassen gerade die Jungs die Schule ohne einen Abschluss
Für ihr Buch "Mis[s]Understood" sprach Zousmer mit Traveller-Frauen aller Generationen. Sie begann, die Gespräche aufzuzeichnen: "Ich hatte einen Fragenkatalog vorbereitet, aber es war sinnlos. Diese Frauen waren es nicht gewohnt, über sich selbst zu reden, über ihre Bedürfnisse und Träume. Noch nie hatte jemand sie danach gefragt." Die Fotografin respektierte ihren Wunsch, im Buch anonym zu bleiben. Aber sie erzählt ungeschönt vom harten Alltag der Traveller-Frauen: "Ihr Lebensstandard ist sehr niedrig." Obwohl viele Familien heute sesshaft seien, wohnten sie in stationären Wohnwagen oder in oft kleinen Häusern in schlechtem Bauzustand. "Sie leben auf von der irischen Regierung zur Verfügung gestellten Halteplätzen, aber Dinge wie Strom oder Abwasserbeseitigung sind nicht selbstverständlich. Manche haben keine richtigen Badezimmer." Die rauschenden Feste und die rosafarbenen Barbie-Kleider, für die diese Traveller-Community bekannt ist – sie seien ein Ventil, ein kurzer Ausbruch aus der Realität des Elends, in der sie leben, so Zousmer.
Anders als Roma und Sinti sind die irischen Traveller keltischer Abstammung. Ihre Geschichte reicht bis ins späte 16. Jahrhundert zurück. Aber die Probleme der rund 40 000 heute in Irland lebenden irischen Traveller alarmieren inzwischen sogar Brüssel. Eine aktuelle EU-weite Studie ergab, dass 96 Prozent der Traveller-Kinder in Irland in Armut aufwachsen. Beengte Wohnverhältnisse sind ein besonders großes Problem, Selbstmord ist eine Pandemie in der Traveller-Community: Die Suizidrate ist sieben- bis achtmal höher als im Rest der irischen Bevölkerung. Zousmer bestätigt das: "Jedes Mal, wenn ich nach ein, zwei Jahren nach Irland zurückkehrte, fehlten Menschen, oft Männer, aber auch Frauen." Sie erzählt von einer sehr jungen Witwe und deren neunjähriger Tochter. "Das Mädchen hat nach dem Selbstmord ihres Vaters ein Jahr lang kein Wort gesprochen. Und niemand half den beiden."
In den vergangenen Jahren aber registriert die Fotografin eine Veränderung, was die Einstellung der Traveller-Frauen betrifft: "Viele Mütter sagen mir, sie wünschten sich ein besseres Leben für ihre Töchter." Diese Generation sorge dafür, dass ihre Kinder in der Schule bleiben, einen Abschluss erreichen und vielleicht sogar einen Beruf erlernen. Ganz selten schafft es jemand aus der Traveller-Community in akademische Jobs, die meisten Mädchen träumen von einer Karriere als Friseurin oder Make-up-Artist.
Wegen der schlechten Arbeitslage in Irland entscheiden sich junge Traveller-Familien heute oft für nur zwei Kinder, manche ziehen weit weg, nach Australien oder Neuseeland. Es breche ihren Müttern und Großmüttern das Herz, sagt Zousmer, ihre Nachkommen auf Facetime aufwachsen zu sehen: "Sie leben für ihre Kinder, ihre Enkelkinder. Familie ist für sie alles."