Spätestens seit die Folgen der Corona-Pandemie aufgearbeitet werden, geht ein neues Phänomen um: die Einsamkeit der Jungen. War das Alleinsein früher ein Privileg der Älteren, stellte man irgendwann fest, dass auch immer mehr junge Menschen, die sozial ein unauffälliges Leben führen, darunter leiden. Im "Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen" bekommen es Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) mit einer Leiche zu tun, die Monate nach dem Tod zufällig beim Brand in einem Mietshaus entdeckt wird. Warum vermisste niemand die junge Nelly Schlüter (Bayan Layla)?
"Atypisches Erhängen" wird als Todesursache festgestellt. Einiges weist darauf hin, dass sich Nelly im Sitzen mit einem Strick das Leben nahm. Weil ihre Leiche über Monate tot in der Wohnung lag, muss Gerichtsmediziner Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) viel Arbeit in unterschiedliche Maden und Käfersorten investieren, um den Todeszeitpunkt genauer einzugrenzen. Wer mit einem gewissen Ekelfaktor leben kann, erfährt hier viel Interessantes.
Bedeutender ist jedoch die Frage: Warum schlug niemand Alarm, als sich Nelly über lange, lange Zeit bei niemandem meldete? Schockiert zeigen sich die Eltern, Henning und Yasemin Schlüter (Robert Kuchenbuch und Idil Üner): Wie konnte es so weit kommen, dass sie – ohne Streit – über Monate keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter hatten? Sebastian Bootz gesteht dem kinderlosen Kollegen Lannert, dass seine Kinder eher genervt seien, wenn er sich bei ihnen meldet. "Kannst du dir vorstellen, ein halbes Jahr ohne persönlichen Kontakt zu deinen Kindern zu sein?", fragt der eine Kommissar den anderen. "Nein, aber ich würde das auch nicht pauschal verurteilen", lautet die Antwort. "Durch Corona hat sich so viel verändert: sozialer Rückzug, Depression, Einsamkeit. Es betrifft eben nicht nur die Älteren."
Poetische Krimis – voller Sozialkritik
Das Besondere am Tod Nellys ist, dass die junge attraktive Frau eigentlich gut ins Leben eingebettet hätte sein können. Doch in Zeiten von Homeoffice und wechselnder Freiberuflichkeit vermisste sie weder ein Arbeitgeber noch hatte sie zuletzt eine feste Partnerschaft. Ein Ex-Freund (Malik Blumenthal), den die Kommissare durchleuchten, schuldete ihr Geld. Einige Männer, die sie per Dating-App traf, bezeichnen die Verstorbene als "übertrieben anhänglich", weshalb sie den Kontakt nicht fortführten. Dann gab es da noch die beste Freundin: Fine Slowinski (Trixi Strobel) hatte mit ihrem Mann (Louis Nitsche) gerade ein Baby bekommen und sich stark ins Private zurückgezogen. Offenbar war sie sogar ganz froh, dass sich Nelly zuletzt nicht mehr bei ihr meldete. Aber warum?
Die renommierte Drehbuchautorin Katrin Bühlig, die zuletzt den Kieler Fall "Borowski und das hungrige Herz" (2022) über Sexsüchtige schrieb, beschäftigte sich gerade in ihren "Tatorten" immer wieder mit dem Thema Einsamkeit. So zum Beispiel im Bremer Fall "Im toten Winkel" (2018) rund um einen Pflegedienst oder in der Berliner Folge "Die dritte Haut" (2021) über Wohnungsnot, Zwangsräumung und Gentrifizierung. Lobenswert an fast allen Filmen der Grimme-Preisträgerin ist: Nie sind ihre Erzählungen platt oder didaktisch. Fast immer wählt sie für ihre sozialkritischen Themen einen besonderen, ja beinahe poetischen Zugang.
Social Media-Gesellschaft mit Post-Corona-Attitude
Im "Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen", übrigens ein Zitat aus dem trotzigen Anti-Selbstmordlied des Liedermachers Gundermann ("Wenigstens bis morgen"), wird durchaus auch die Mordtheorie untersucht. Sonst wäre man ja auch beim "Tatort" fehl am Platze. Die Verdächtigen werden im Film der jungen "Tatort"-Debüt-Regisseurin Milena Aboyan dazu benutzt, deren mögliche Teilschuld am Tod Nellys zu durchleuchten. Da gibt es die Szene mit einer ebenfalls jungen Nachbarin, der Nelly zum Einzug einen Kuchen backt und deren Nähe sie sucht. Doch die neue Nachbarin ist so gestresst von ihrem Alltag, dass sie die Freundlichkeit der etwa gleichaltrigen Frau als nervig und übergriffig empfindet.
So weit ist es also mit uns als Social (!) Media-Gesellschaft mit Post-Corona-Attitude gekommen: Wer nett ist und einen persönlichen Kontakt sucht, wird als suspekt wahrgenommen. Es ist die traurige Erkenntnis eines spannenden, facettenreichen und gegen Ende fast ein wenig zu wendungsreichen Falles. Dennoch ist der "Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen" mal wieder ein ziemlich starker Stuttgart-Fall, dessen Ideen und Motiven man gedanklich noch länger nachhängt.
Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen – So. 23.11. – ARD: 20.15 Uhr