Mal ehrlich: Wann haben Sie das letzte Mal ein Album von vorne bis hinten durchgehört? Also so richtig: Nur auf die Musik konzentrieren, nicht dabei reden, nicht ständig aufs Handy gucken. Macht doch heute kein Mensch mehr. Aber genau das verlangt Rosalía von ihrem Publikum an diesem Abend in Barcelona. Zwei Tage vor Erscheinen ihres neuen Albums hat die 33-jährige Spanierin in den ehrwürdigen "Palau Nacional" zu einer exklusiven "Listening Party" geladen.
Unter der riesigen Kuppel sitzen da also rund 900 Auserwählte. Fans, die über Social Media Tickets gewonnen haben, spanische Promis wie die Schauspielerin Rossy de Palma, Fußballidol Alexia Putellas, der Kulturstaatsminister, aufgereiht wie Schulkinder auf Bänken. Die Wände sind mit weißen Stoffbahnen abgehangen, das Licht gedimmt. Vorn ist ein rundes Podest aufgebaut, mit fluffiger, weißer Meterware darauf wie Sahnebaiser, das sich plötzlich bewegt und langes, dunkelbraunes Haar freilegt.
Spitzes Aufkreischen der Fans. Das ist Rosalía – leibhaftig! –, die da zwischen den Laken liegt. Trotzdem wird sie keinen einzigen Ton von sich geben, sondern sich nur ein bisschen räkeln, lächeln, beobachten, wie ihre Gäste eine geschlagene Stunde lang gebannt ihrer Musik aus der Konserve lauschen und die auf Leinwand projizierten Texte verfolgen. Knallharter musikalischer Frontalunterricht. Danach huscht die Sängerin zufrieden aus dem Saal. Ende der Vorstellung.
Mal angenommen, Taylor Swift oder Lady Gaga würden solche "Partys" geben. Oder Rihanna, sollte sie jemals wieder eine Platte machen. Natürlich würden die Fans in Scharen anrücken. Bei Bands wie Radiohead oder Oasis sowieso. Aber bei einer jungen Katalanin, von der weite Teile des Erdballs immer noch keine Notiz genommen haben?
Allerdings! Rosalía wird nämlich längst nicht mehr nur in ihrer Heimatstadt Barcelona oder in Spanien wie eine Nationalheilige verehrt. Ähnliche Hörhappenings hielt sie zuvor schon in Mexiko-Stadt und New York ab. Zeitgleich mit Barcelona fanden sie in achtzehn weiteren Städten statt, logischerweise ohne Anwesenheit der Künstlerin, und trotzdem sagten die Leute begeistert zu. Weil sich längst herumgesprochen hat, dass diese Frau irgendwie besonders ist und das neue Album quasi eine Offenbarung sein soll. Übrigens nicht nur, aber auch, weil sie darauf in dreizehn Sprachen singt: Latein, Deutsch, Ukrainisch, Chinesisch. Comprendes? Alle Texte natürlich selbst geschrieben.
Die erste Singleauskoppelung "Berghain" ging Ende Oktober sofort viral. In Deutschland sicher auch wegen des gleichnamigen Berliner Technoclubs, obwohl der Song stilistisch nicht weiter davon entfernt sein könnte. Was als bleischwere Symphonie in D-Moll mit Streichorchester und glockenhellem Operngesang (auf Deutsch) beginnt, entwickelt sich zur düster experimentellen Ballade. Irgendwann steigt die isländische Sängerin Björk mit ein, am Ende ertönt der Pop-Avantgardist Yves Tumor mit dem Mike-Tyson-Zitat "I’ll fuck you 'til you love me" in Endlosschleife.
Das und eigentlich alles an diesem Lied ist beim ersten Hören schwer zu ertragen. Für solche krassen Windungen sind unsere weichgespülten Gehörgänge ja gar nicht mehr ausgelegt. Ist das überhaupt noch Pop? Egal, während der Verstand noch zweifelt, haben sich einzelne Motive schon im Ohr festgesetzt und fordern energisch Nachschlag. Der Song hatte auf Spotify nach gut einer Woche bereits über 25 Millionen Abrufe.
Rosalías neues Album als unkonventionelle Vision
"Berghain" wäre nur halb so überraschend, wären da nicht die drei vorherigen Alben und eine ziemlich illustre Persona dazu. Im Schnelldurchlauf: Rosalía Vila Tobella, 1993 in einem Vorort von Barcelona geboren, studierte an der katalanischen Musikhochschule Gesang und Flamenco. Ihr erstes Album, "Los Ángeles", war im Grunde ihre Abschlussarbeit. Das zweite, "El Mal Querer", sorgte 2018 bereits für eine Sensation, weil es Flamenco krachend mit Pop- und Rap-Elementen verband. Vor drei Jahren folgte mit "Motomami" der internationale Durchbruch. Ein wilder Genremix aus Flamenco, klar, aber auch Dance, Drum und Reggaeton. Danach wurde sie zur "spanischen Rihanna" erklärt, was zwar ein bisschen platt, aber gar nicht so falsch klang.
Schließlich war Rosalía bald das Gesicht von Dior. Hing mit den Kardashians rum. Hatte offensichtlich eine Affäre mit dem The-Bear-Darsteller Jeremy Allen White. Ist aktuell mit dem deutschen Schauspieler Emilio Sakraya liiert. Bekam eine Calvin-Klein-Unterwäschewerbung und eine Rolle in der nächsten Staffel von "Euphoria". Ziemlich zementierter Popstar-Status. Obendrein ist die 33-Jährige in Interviews so entzückend, dass die Leute reihenweise ihr Schulspanisch auffrischen wollen.
Die Sängerin hätte jetzt also eigentlich nur ein ähnlich gutes Album wie Motomami nachlegen müssen, das sich geschmeidig in den Algorithmus spült, und dann in Ruhe zu Hause Geldbündel stapeln können. So wie es viele andere Stars auch machen.
Stattdessen jetzt also "Lux", lateinisch für Licht. Das klingt nach Erleuchtung, die Anmutung ist betont sakral, aktuell trägt sie auf dem dunklen Haar tatsächlich einen blond gefärbten Kranz wie einen Heiligenschein.
Das Album ist aber mindestens genauso eine Zumutung, weil es im Grunde nichts Erwartbares serviert, wenig von dem Rhythmus und dem Temperament, das ihre Fans sonst so lieben. Es sind herzzerreißende Balladen darauf, "La Perla" ist eine lustige Tirade über "emotionale Terroristen", in "Dios es un Stalker" geht es um das Gefühl und den Preis des Ruhms. Die meisten Songs werden begleitet von Musikern des London Symphony Orchestra, aber natürlich heißt das bei Rosalía deshalb noch lange nicht "klassische" Musik.
"Ich verstehe Freiheit auch so, dass man sich die Freiheit nimmt, Dinge eben nicht zu tun", sagte die 33-Jährige in einem Interview mit der "New York Times". Für sie sei es das Normalste der Welt, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Warum einfach, wenn es auch kompliziert gut geht? Okay, das Budget hätten sie in den vergangenen drei Jahren leider etwas überzogen, aber das Ergebnis mache sie tiefglücklich.
Was sie ebenfalls freuen dürfte: Bislang funktioniert das Experiment, der Hype ist gigantisch, was im flacher werdenden Mainstreampop nicht unbedingt zu erwarten war. "Danke Rosalía, du bist eine echte Visionärin!", postete Madonna, sie könne nicht aufhören, das neue Album zu spielen. Ob sie es von vorn bis hinten in der vorgegebenen Reihenfolge gehört hat, ist leider nicht bekannt.