Soziale Medien Heul doch! Warum auf Instagram, Tiktok und Co. immer öfter geweint wird

  • von Maja Goertz
Auf Social Media und auf dem roten Teppich wird geweint
Auf Social Media und auf dem roten Teppich darf geweint werden: Ariana Grande und Cynthia Erivo auf Promo-Tour für ihren Film "Wicked: Film 2"
© John Shearer / 97th Oscars / The Academy / Getty Images
Heile-Welt-Bilder waren gestern, auch bei Stars: Auf Social Media fließen immer häufiger die Tränen. Das folgt einem Geschäftsprinzip: Vulnerabilität garantiert Aufmerksamkeit.

Die Nasenflügel zittern, die Augen werden glasig, schließlich laufen sie über. Tränen rinnen bachartig über die Wangen, die Schultern beben – und, Moment, alle schauen dabei zu? Ganz recht. Wie Weinen auszusehen hat, wissen wir heute nicht mehr aus Filmen, sondern vor allem von Social Media. Denn dort wird der eigentlich ja intime Moment des Gefühlsausbruchs zunehmend in die Öffentlichkeit ausgelagert. Vorbei die Zeiten, als auf Instagram, Tiktok und all den anderen Plattformen nur der polierte Teil des Lebens hergezeigt wurde – der goldene Urlaubsstrand, Cocktails vor der Skyline, die Granola-Bowl. Die neue Onlinewährung lautet nicht mehr Perfektion, sondern Authentizität, #realness. 

Weinende Frau auf Instagram
Trauer, Einsamkeit, Liebeskummer? Normale Social-Media-Userinnen zücken die Kamera, sobald die Augen feucht werden

Und was könnte echter wirken als Tränen, die für Gefühle stehen, die so stark sind, dass sie jede Selbstkon­trolle aushebeln?  

In einer Zeit, in der mentale Gesundheit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und es endlich kein Tabu mehr ist, offen über belastende Dinge zu sprechen, über Abgründe und die Verschattungen der Seele, scheint es nur folgerichtig, dass Traurigkeit und Gefühlsüberwältigungen auch den digitalen Raum erobern. Zumal es derzeit wahrlich genug Gründe zum Heulen gäbe: die Klimakrise, die vielen furchtbaren Kriege, Menschenrechtsverletzungen, der Rechtsruck.

Auf Social Media dominiert öffentliches Weinen

Und doch ist das öffentliche Weinen, das Social Media derzeit dominiert, noch mal anders konnotiert. Man schaue etwa Cynthia Erivo und Ariana Grande zu, die es in zahlreichen Interviews zu ihrer "Wicked"-Pressetour zur Vervollkommnung brachten. Oder der Influencerin ­Diana zur Löwen, die eine Trennung beweinte. Nina Chuba glitzerten wegen einer Konzertabsage in einer Instagram-Story die Tränen in den Augen, und die Sängerin Lorde postete im Sommer ein Foto von sich, das sie verzweifelt auf dem Badezimmerboden sitzend zeigte.

Auch Menschen ohne Prominenz oder große Reichweite gucken immer häufiger in die Kamera, wenn sie weinen – es sind vor allem junge Frauen. Das fügt sich ein in ein gesellschaftliches System: Weinen ist kulturell wie visuell weiblich codiert, eine erlaubte Schwäche, die in einer patriarchalen Gesellschaft sogar als attraktiv gilt. 

Diana zur Löwen weint
Auch Influencerinnen mit Millionen Followern wie Diana zur Löwen ...

Und da derzeit binäre Weiblichkeitsideale in Mode, Popkultur und Politik durch konservative Strömungen und zahlreiche #Girl-Trends laut beschworen werden, überrascht es dann doch kaum, dass auch die sensible, emotional angefasste Frau wieder Konjunktur hat. Wichtig ist dabei nicht der Anlass, sondern die Aura der Weinenden – die geradezu romantische Ästhetisierung ihres Leids. Den passenden Soundtrack lieferte in diesem Jahr Kayla Shyx mit ihrem Album "Sad Girl Summer".

Wo der Grund für die Tränen bekannt ist, zeigt sich bemerkenswert oft, dass die  öffentlich geteilten Gefühlsregungen fast ausschließlich privaten Ursprungs bleiben. Über Persönliches (zerbrochene Beziehungen, Selbstzweifel, Überforderung) zu weinen, das ist erlaubt, auch im Sinne der erwähnten Authentizität. Aber gerade diese Privatisierung der öffentlich zelebrierten Emotionen spiegelt den Rückzug ins Apolitische, der besonders den jungen Generationen mit Vehemenz vorgeworfen wird.

Weinende Frau auf Instagram
... oder Marie Nasemann weinen öffentlich

Parallel dazu entstehen Trends, die Weinen ganz offensiv als inszenatorisches Mittel nutzen und gar nichts mehr auf Authentizität geben: So schritt die Rapperin Doja Cat mit schwarz geschminkten Schlieren unter den Lidern, die jeder "Bravo"-Lovestory zur Ehre gereicht hätten, über den roten Teppich. Zu diesem sogenannten CryingMake-up kursieren online Tutorials, die zwar auf nachgeahmte Mascara-Tränen-spuren verzichten, dafür aber mit rotem Kajal und Lipgloss Vorlage liefern, gereizte Augen zu simulieren.

Bei all den tränenreichen Online-Auftritten verfließen die Grenzen zwischen echten Gefühlen und rein performativer Verletzlichkeit, die Reichweite einbringen soll. Vulnerabilität garantiert Aufmerksamkeit, und Tränen steigern den Marktwert. Kein Wunder, dass auch Buchtrends auf Tiktok so funktionieren: Romane gelten als besonders lesenswert, wenn sie zum Weinen bringen, und viral gehen die Videos, in denen Leserinnen sich dabei filmen. Wer sich selbst schon mal nassen Auges beobachtet hat, weiß, dass dies durchaus als ein Erkenntnismoment taugt und zu Distanz oder Akzeptanz der eigenen Gefühle führen kann. Leider geht es bei Social-Media-Tränen oft um Selbstinszenierung statt um Selbstoffenbarung.

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