Freizeit Das deutsche Paradies?

Freizeit: Das deutsche Paradies?
JAN BRANDT, 40, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. 2011 veröffentlichte er seinen Debütroman »Gegen die Welt«. Zuletzt erschien von ihm der Reisebericht »Tod in Turin« (DuMont, 2015).

Sylt war für unseren Autor immer ein großes Mysterium. Seit seiner Kindheit verfolgte ihn der Ruf der Insel. Dann ist er endlich mal hingefahren. Und fand erst den Horror dann das Glück.

Text: Jan Brandt / Fotos: Stephanie Pfaender

Lange Zeit hielt ich Sylt für einen Geheimbund. Wenn ich mit meinen Eltern im Sommer in den Schwarzwald fuhr, überholten uns immer wieder Autos, auf denen seltsam geformte Aufkleber klebten. Sie sahen aus wie ein verbogenes Maschinengewehr. Als ich meinen Vater fragte, was es damit auf sich habe, sagte er nur: »Das ist Sylt.« »Was ist Sylt?«, fragte ich. Und als er dann sagte: »Rede nicht so viel, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren«, fühlte ich mich in meinem Verdacht bestätigt.

Irgendwann, ich nehme an, es war im Welt- und Umweltkundeunterricht erfuhr ich, dass die Form des Stickers dem Umriss der größten deutschen Nordseeinsel entsprach, »nicht mehr und nicht weniger«, wie die Lehrerin auf mein hartnäckiges Nachfragen hinzufügte. Den Gedanken, dass mächtige Männer die Insel als Rückzugsgebiet nutzten, konnte ich nicht verdrängen. Womöglich, dachte ich, ist mein Vater Teil des Komplotts, womöglich sogar dessen Anführer. Dazu passte, dass wir selbst nie nach Sylt reisten im Gegensatz zu meinen Mitschülern, die mir nach den Sommerferien immer begeistert von dem endlosen Sandstrand, dem Wind und den Dünen erzählten, in denen man, da waren wir aber schon älter, mit den Mädchen alles machen könne, was man wolle. Ich dagegen wusste nur von Wanderungen in Lederhose, Schuhplattlern und der weltgrößten Kuckucksuhr zu berichten.

Später, als sich meine Faszination für Verschwörungstheorien ein wenig abgeschwächt hatte, sang ich vor der Stereoanlage lauthals mit, wenn Die Ärzte endlich »zurück nach Westerland« wollten. Und dann, noch später, las ich Christian Krachts Roman »Faserland«, diese großartige Deutschlandreise, die in List beginnt, bei »Gosch«, der nördlichsten Fischbude Deutschlands. So wurde Sylt für mich zu einem Sehnsuchtsort, den ich mir magisch, inspirierend und bewusstseinserweiternd vorstellte, ein Luftkurort mit halluzinogener Wirkung. Jahrzehntelang blieb die Insel eine Verheißung. Bis ich es nicht mehr aushielt.

Ich bewarb mich mit einer Kurzgeschichte um das Inselschreiberstipendium einer Sylter Mineralwasserfirma, und zu meiner Überraschung wurde ich auch genommen. Freunde, die schon auf Sylt gewesen waren, hatten mich gewarnt, sie sagten, die ganze Insel strahle eine Parkplatztraurigkeit aus und sei so langweilig, »dass du dich gleich wieder nach Berlin zurücksehnst«. Ich glaubte ihnen nicht, ich sagte: »Das kann gar nicht sein«, und beschloss, alles ganz genau zu dokumentieren, vor allem die ersten Eindrücke, um im Nachhinein nichts zu verklären.

Noch während ich im Zug saß, begann ich zu schreiben: Hinter Hamburg, zwischen Wilster und Burg, ist es, als schwebe der Zug über der Erde, der Nebel zwischen den kahlen Bäumen, das diesige Sonnenlicht, als würde die Bahn abheben, bevor sie hinterm Nord-Ostsee- Kanal wieder landet. Dann öffnet sich das Marschland, Gräben durchziehen die Felder, vereinzelte Hecken, vertrocknetes Schilf, windschiefe Bäume. In Klanxbüll, der letzten Station auf dem Festland, steigt ein Paar zu. Sie mit Pumps, Louis-Vuitton-Tasche, Arschgeweih, rote Lippen, rote Fingernägel. Er mit Prada-Schuhen, Outdoorjacke, Blackberry. Beide sind Ende dreißig. Braun gebrannt. Getönte Haare. Berufsurlauber.

Freizeit: Das deutsche Paradies?

Wieder nimmt der Zug eine Steigung, weißer Himmel, und dann hinterm Deich das Meer. Oben und unten die gleiche Farbe, als ob Himmel und Erde eins würden. Der Horizont: nicht mehr auszumachen, als ob wir nicht über den Hindenburgdamm, sondern durch Wasser glitten. Eine Euphorie macht sich unter den Passagieren breit, als stünde Großes unmittelbar bevor. Die Frau zieht sich die Lippen nach. Der Schaffner ändert seine Tonlage, singt fast: »Nächster Halt: Morsum. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.« Dabei ist von der Insel noch nicht viel mehr zu sehen als ein Hohlweg, Böschungen und Büsche. Die Frau mit den roten Lippen sagt: »Gleich gibt’s Kuchen in der Kitchen.« Sie setzt ihre riesige Sonnenbrille auf. »Ist heut’ geiles Wetter.«

Und dann bin ich da, am Ziel meiner Reise. Ich beziehe eine Wohnung mit Blick auf das Rantumer Becken. Ehe es dunkel wird, gehe ich wieder nach draußen. Ich glaube, schon einmal hier gewesen zu sein, aber das liegt womöglich an Roman Polanskis schönem Film »The Ghost Writer«, der etwas weiter nördlich, in Höhe von List, gedreht wurde.

Im Angesicht der untergehenden Sonne spaziere ich am Strand in Richtung Westerland. Hobbyfotografen mit dicken Objektiven stehen minutenlang vor verwittertem Holz, das aus dem Sand ragt; eine Frau sitzt im Schneidersitz und blickt aufs Meer; ein Windsurfer im Neoprenanzug, Wellen, die gegen das Ufer klatschen, das Knistern der Steine, Möwen, Scheidenmuscheln, Herzmuscheln, am Horizont die zwei Hochhäuser von Westerland, eine 60er-Jahre-Trutzburg gegen die Natur.

Am nächsten Tag treibt mich der morgendliche Blick aus dem Fenster gleich wieder an die frische Luft. Diesmal gehe ich am Strand in die andere Richtung. In Rantum steige ich die Holztreppen hoch: Blick auf ein Geisterdorf aus Reetdachhäusern. Die meisten wurden, wie ich den schmiedeeisernen Angaben über den Türen entnehmen kann, in den vergangenen fünfzehn Jahren gebaut. Auf den Häusern stehen Namen wie Grabinschriften: Jens, Gunnar, Bianca, Idyll, Meeresblick, Dünenruh. Außerhalb der Saison stehen sie leer, nur vereinzelt parken Porsches mit Hamburger Nummernschildern vor den Garagen.

Abends sitze ich im Dorfhotel Rantum und schaue Fußball. Das Hotel, 2007 eröffnet, folgt einer einfachen, funktionalen Ästhetik, außen Putz, innen Raufaser. Die Bar ist ein Durchgangszimmer zwischen Lobby und Restaurant. Zwei Männer sitzen an der Theke, der eine arbeitet für eine Hotelzubehörfirma und schreibt während des Spiels auf dem Laptop ein Angebot für einen Kunden in Höhe von 37 000 Euro. Was man in einer Halbzeit über einen Menschen erfahren kann, ohne mit ihm sprechen zu müssen: seinen Namen, seine private E-Mail-Adresse, seinen Wohnort, seinen Wagen (weißer Porsche Cayenne, der draußen steht), seinen Beruf (Vertriebsleiter) und seine Schwächen (Kommasetzung).

In der einen Ecke des Restaurants sitzt eine Mutter mit ihren drei Kindern, die sich nicht für das Spiel interessieren. In der anderen: zwei Bier trinkende Männer mit Sommerschals. Als noch ein etwa Mittfünfziger mit seiner mindestens zwanzig Jahre jüngeren Freundin hereinkommt, beide Sekt auf Eis bestellen und draußen auf der Terrasse im Strandkorb mit Blick auf die Straße Zigarre rauchen, ist das Arsenal der stereotypen Sylt-Urlauber endlich komplett.

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Am Tag darauf leihe ich mir ein Fahrrad. Ich fahre Richtung List. Die Sonne scheint, und vom Meer her weht ein scharfer Wind. Ich fahre auf der ehemaligen Inselbahnstrecke, ein Teerweg, gesäumt von schiefen Büschen und Bäumen. In Kampen, dem Dorf der Reichen, gehe ich ins Café Kupferkanne, das auch in »Faserland« vorkommt. Ein ehemaliger Bunker, heute ein Backsteinhaus mit Grasdach, nur unten in der Espressobar ist der ursprüngliche Zweck des Gebäudes noch zu erkennen. Ich setze mich draußen zu einer Gruppe Hamburger an den Tisch, die die ganze Zeit über ihre Pulsmesser reden, trinke Kaffee, esse ein Stück Apfelkuchen mit Sahne für 9,70 Euro und starre auf Rhododendron- und Eibenbüsche, Kiefern und Birken.

In der Ferne rauscht das Meer. Vögel ziehen über uns hinweg. Und plötzlich ist sie da, diese Inselruhe, die viele so fürchten, wegen der so viele andere herkommen. Ein Sylt-Besuch, denke ich, ist ein bisschen wie Karneval feiern oder eine Exkursion, die klassische »Teilnehmende Beobachtung« aus der Soziologie: Man kann in dieses Forschungsgebiet hineinspazieren und alles albern, borniert und schrecklich finden. Kaum ein Ort ist dafür besser geeignet als diese Insel.
Das ist die eine Möglichkeit.

Ich setze mich wieder auf mein Fahrrad, fahre weiter durch die gewaltige Dünenlandschaft hindurch, und erst da merke ich, wo ich gelandet bin: rotbraunes Heidekraut, gelber Strandhafer, sonst nichts, keine Bäume, keine Büsche, eine belebte Mondlandschaft, ein künstlicher, unwirklicher Ort, als wäre es Wissenschaftlern gelungen, eine göttliche Atmosphäre zu erzeugen oder eine perfekte Simulation, eine Imitation des Paradieses.

Ich fahre auf den Ellenbogen, zum nördlichsten Punkt Deutschlands, und als ich ans Wasser trete, taucht ein Seehund auf, schaut mich minutenlang an und taucht wieder ab.