Es gehört für viele von uns ja inzwischen zum Dezember wie der Nikolausstiefel oder Glühwein mit Schuss: Der alljährliche Jahresrückblick, den der Musikstreamingdienst Spotify einigermaßen liebevoll für jeden seiner Nutzer zur Verfügung stellt. "Spotify Wrapped" heißt der Spaß, und er verrät: Welche Künstler hast du am häufigsten gehört? Welche Songs, Genres, Podcasts? Und was sagt das über dich aus?
Das serviert das schwedische Unternehmen in hübschen Grafiken, die sich prima in den sozialen Medien teilen lassen. Und alljährlich haben wir großen Spaß daran, unsere eigenen Jahrescharts überall zu posten – und uns darüber aufzuregen, dass alle anderen ihre eigenen "Wraps" überall posten. Typisch Mensch. Aber ... dieses Mal ist irgendwas anders. Ja, klar gibt es wieder die üblichen genervten Kommentare in den Weiten des Internets, doch immer wieder stolpert man dort über etwas völlig Unerwartetes: Freundlichkeit und Wertschätzung! Im Zweifelsfall immerhin geduldige Milde. Was ist denn da los?
Alle lieben es, alle hassen es: "Spotify Wrapped"
Der Musikgeschmack ist etwas, auf das bestimmte Teile der Menschheit großen Wert legen. Also, alle die nicht "eigentlich alles", "Charts" oder "Naja, so Radio halt" hören (und daran Spaß haben). Zwischen diesen Leuten und denen, die sehr genau wissen, was sie für gute Musik halten, besteht eine unüberbrückbare Kluft. Innerhalb letzterer Gruppe ist es hingegen fast egal, ob jemand Black Metal oder Luxemburgischen Straßenrap hört: Wer ein bisschen Herzblut dahineinsteckt, nach persönlichen Lieblingskünstlern und Top-Songs zu suchen, hat Respekt verdient. Auch von jemandem, der einen gänzlich anderen Geschmack hat.
Warum ist das so? Weil der Musikgeschmack etwas über dich verrät, dass du selbst mit Worten vielleicht gar nicht ausdrücken kannst. Oder willst. Vielleicht erzählst du ständig alberne Flachwitze, aber dein "Spotify Wrapped" ist voller herzzerreißender Depri-Songs. Vielleicht bist du immer nett zu allen, aber hörst zu Hause Dimmu Borgir auf Lautstärke elf. Vielleicht gibst du permanent den harten Alpha, aber magst Taylor Swift. Alles möglich, alles cool. Und das Teilen des eigenen Jahresrückblicks auf Instagram & Co. erlaubt deinem erweiterten Bekanntenkreis einen kurzen Einblick in deine Gefühlswelt, den du sonst 364 Tage im Jahr verwehrst.
Musik sagt verdammt viel über dich aus
Und genau deshalb teilen wir das Ganze so gern. Um zu zeigen: Das bin ich, dafür stehe ich, das wusstet ihr vielleicht noch nicht von mir. Ja, und natürlich auch: ICH HABE EINEN EXZELLENTEN MUSIKGESCHMACK. (Aber das ist nunmal auch etwas, auf das man stolz sein darf! "Eigentlich alles", pah!) Das Problem dabei: Die meisten von uns tendieren dazu, sich selbst interessanter zu finden als die anderen. Und wenn dann wirklich jeder im Freundeskreis und fast jeder im gesamten Internet nahezu zeitgleich sein "Wrapped" postet, ist es mit freundlichem Interesse schnell vorbei und kollektive Ablehnung stellt sich ein.
"Euer Wrapped interessiert kein Schwein", "Bleibt mir bloß alle weg damit" – das sind die üblichen Kommentare, die sich wenige Stunden nach dem allseitigen Entzücken über den jährlichen Start des Spotify-Features etwa bei Twitter häufen. Wir möchten jetzt spekulieren, dass so etwas größtenteils von "Charts"-Hörern kommt, oder Leuten, denen der Nachwuchs die Jahresliste mit Kinderhörspielen versaut hat, aber es ist ja so: Selbst der größte Musikfreund ist nach spätestens zwei Tagen genervt vom nicht enden wollenden Geposte.
In diesem Jahr sind wir nett zueinander
Doch weshalb halten sich Spott, Genervtheit und Pöbelei dann in diesem Jahr so in Grenzen? Weshalb fordern Menschen auf Twitter plötzlich sogar ein, dass andere ihre "Wraps" teilen sollen, weil man sich entgegen aller Erwartungen dafür interessiere? Die Antwort ist vermutlich ebenso simpel wie bitter: Wir alle haben ein paar harte Jahre hinter uns. Jahre, in denen nur wenige Dinge schön waren – und Musik gehörte dazu. Jahre, in denen sich über viel Dinge gestritten wurde – aber der Musikgeschmack war nie der Grund dafür.
Und vielleicht ist unsere plötzliche Milde, was die omnipräsenten "Spotify Wrapped"-Postings angeht, auch einfach die Erkenntnis, dass wir selbst uns das Leben ein bisschen schöner machen können, wenn das Leben seinerseits sich so wenig Mühe damit gibt. Verrückte Idee: Nett sein, Interesse zeigen, das hohe Ross kurz beiseite schieben und sich darüber freuen, dass da jemand dank Anton aus Tirol genauso gute Laune bekommt wie du dank The National. Wir können nächstes Jahr wieder hämisch zueinander sein, wenn die Dinge (hoffentlich) wieder besser laufen. Aber bis dahin lasst uns doch zusammenhalten, und uns mit und durch Musik supporten.
PS: Ach, du hast viel Taylor Swift gehört, ja? Warst du bestimmt der einzige, ne? Krass originell, ich kann das Gähnen kaum ... ups.
Sorry.