Wer an Weihnachten nach Hause fährt, trifft meistens nicht nur die Weihnachtsgans, die liebe Familie und die bucklige Verwandtschaft. Fast jeder hat zuhause eine Stammkneipe, in der sich alle »von früher« regelmäßig zu den Feiertagen auf ein paar Bier treffen. Ein informelles Klassentreffen mit allen, die aus dem gleichen Nest kommen wie man selbst. Dann beginnt meist das große »Na, wie gehts Dir/Na, wie gehts dem«-Spielchen. Ausgewählte NEON-Autorinnen erzählen hier von ihren alljährlichen Weihnachtstreffen – wieso sie hingehen, wieso sie nicht hingehen. Und ihr? Alle Jahre wieder?!
Martina Kix, 32052 Herford:
»Blau unterm Baum« ist eine Institution: Alle Jahre wieder treffen wir uns einen Tag vor Weihnachten auf dem Alten Markt in Herford, stehen unter Heizpilzen und halten eine Tasse Glühwein in der Hand. Wir, das sind Klassenkameraden aus der Schule, ehemalige Freunde und Bekannte, eigentlich alle, die um 1985 in Herford geboren sind, entweder im Mathilden Hospital oder im Kreiskrankenhaus. In jedem Fall ist es sehr voll auf dem kleinen Marktplatz und man bewegt sich eigentlich kaum, weil man ständig jemanden trifft, der nun ja, dicker geworden ist, dünner, verheiratet oder geschieden, ein Kind bekommen hat oder zwei und davon erzählen muss.
In meinem Kopf springt dann der Vergleich zwischen Damals und Heute an. Früher auf dem Schulhof war ich eher nicht so beliebt, weil ich meine Haare weder in Regenbogenfarben tönte, noch Buffalo-Schuhe tragen durfte und statt Techno lieber Punk hörte und Greenpeace-Shirts trug. Und dann hatte ich auch noch Latein gewählt statt Französisch. Nun ja. Die Coolen von damals sind die Spießer von heute. Zumindest sehe ich das so. Und so erzählen meine früheren Klassenkameraden stolz, dass sie die Steuerkanzlei ihrer Eltern übernommen haben oder in der Sparkasse arbeiten. Und ich nicke. Auch in diesem Jahr werde ich nach all den Updates und Smalltalks nach Hause torkeln, in den Himmel schauen und mir denken: Ich bin Single, kann machen, was ich will und habe den tollsten Job der Welt, weil ich mal für eine Geschichte nach Kairo reise, mal mit einem Mann spreche, der Sex mit Hunden hat. Ich finde, man sollte unbedingt zu allen weihnachtlichen Klassentreffen gehen, um nachher ein bisschen glücklicher und zufriedener zu sein.
Fiona Weber-Steinhaus, 28203 Bremen:
Die Frage »Und, was machst du so?« ist der Grund, weshalb viele nicht zu Klassentreffen gehen wollen. Ich finde sie überhaupt nicht schlimm. Immerhin spielte man früher mit den Leuten im Kindergarten, saß später sieben Stunden am Tag zusammen in der Schule, lernte zusammen, schrieb voneinander ab, und stand gemeinsam Herzschmerz durch. Nachzufragen, wie es diesen Leuten geht, ist ja nicht nur eine Floskel. Es ist spannend zu wissen, was sie bewegt, wie es ihnen geht. Und manchmal wird es dann auch ein richtig toller Abend. Vor ein paar Jahren traf ich eine alte Schulliebe wieder. Wir versackten in der Kneipe, tranken Bier, bis wir die letzten am Ecktisch waren. Vor der Tür sagte er: »Wie es wohl ist, dich mal wieder zu küssen?« Morgens um fünf im Schnee zu knutschen war fantastisch. So wie damals mit achtzehn: aufgeregt, kalt und ohne Bedeutungsschwere. Wir beide wussten, in zwei Tagen fahren wir zurück in unsere jetzigen Leben – und das nächste Mal sehen wir uns erst wieder in einem Jahr.
Teresa Fries, 96450 Coburg:
Ich gehe gerne auf Klassentreffen. Nicht nur, weil ich an Weihnachten ohnehin in der Heimat bin: Ich habe am 23. Dezember abends ohnehin nichts anderes zu tun und am nächsten Tag kann man ja ausschlafen. Und in meiner Heimatstadt gibt es sowieso nur den Weihnachtsmarkt und eine vernünftige Bar, in die man gehen kann (»Sonderbar«). Nach dem obligatorischen »Heeey« und »Na, wie geht’s dir?« sucht man sich eine »Schnittmengenperson«, wie ich es nenne. Eine Person, mit der man gut befreundet war und von der man ausgeht, dass sie mehr Kontakt zu den anderen gehalten hat. Die Schnittmengenperson fragt man jeweils die beiden entscheidenden Fragen: 1. »Was macht/studiert der Dings jetzt nochmal?« 2. »Sind die noch zusammen?«. Die zweite Frage ist elementar, um nicht mit der Höflichkeitsfloskel, was denn der Freund/die Freundin mache, gleich zu Beginn einen Heulkrampf auszulösen und sich den Rest des Abends mit der Geschichte eines tragischen Beziehungsendes beschäftigen zu müssen.
Ist man bei allen wieder auf dem neuesten Stand, beginnt eine Art Reise in die Vergangenheit. Man ist wieder achtzehn, steht in den gleichen Cliquen zusammen wie früher und erzählt sich alte Geschichten, als wären sie gestern passiert. Man macht die gleichen (schlechten) Witze und findet sie immer noch lustig. Und der Schwarm von früher sieht auf einmal auch wieder ganz gut aus. Gegen fünf Uhr wankt man heim. Man versucht wie früher die Eltern nicht zu wecken, was nie funktioniert, weil die besorgte Mama sowieso nicht schlafen kann, ehe man zuhause ist.
Hätte ich im echten Leben das Gefühl, dass sich nichts verändern – es wäre wahnsinnig deprimierend. Aber einmal im Jahr an Weihnachten ist es wahnsinnig schön.
Nora Reinhardt, 91154 Roth:
Ich habe im Jahr 2000 Abitur gemacht und war in dreizehn Jahren noch nie auf einem Klassentreffen. Am offiziellen Zehnjährigen war ich im Ausland auf Recherche unterwegs (leiderleider, seufz) und zum inoffiziellen Treffen an Weihnachten gehe ich nicht. Ich gehe an Weihnachten nicht aus. Ich gehe das ganze Jahr über aus. An den Weihnachtsfeiertagen bin ich zuhause, bei meinen Eltern, seit 32 Jahren, jedes Jahr, oh Tannenbaum. Ich habe in den vergangenen Jahren aus beruflichen Gründen in München, Bern, Hamburg und Berlin gewohnt. Ich sehe meine Eltern nicht so oft. Die Zeit mit den eigenen Eltern ist ziemlich begrenzt. Wie begrenzt? Auf der Website »See your folks« kann man anhand seiner Besuchshäufigkeit und dem Alter von Mama und Papa errechnen, wie oft man seine Eltern voraussichtlich noch sehen wird. Ich sags mal so: Ich verbringe die Weihnachtszeit lieber mit ihnen als mit ehemaligen Klassenkameraden, mit denen ich längst den Kontakt verloren habe und das auch das ganze Jahr über nicht so schade finde. Eine nette Klassenkameradin, immerhin, sehe ich sowieso jeden Januar – als RTL-Reporterin im Dschungelcamp. Und meine echten Freunde aus der Schulzeit (Huhu Fee! Servus Lene! Hallo Christian!) treffe ich sowieso – auch außerhalb der Glühweinzeit.