Freizeit Im Superduperland

Freizeit: Im Superduperland

Neulich saß ich mit einem Freund zusammen, der seit ein paar Jahren in China lebt. Wir unterhielten uns darüber, wie sich die Perspektive auf das Heimatland verändert, wenn man länger im Ausland lebt. »Die Bundesregierung zum Beispiel«, sagte er: »Da ist eine Frau an der Spitze, ein Behinderter ist Finanzminister, und vor Kurzem hatten wir noch einen schwulen Außenminister. Deutschland sieht aus wie ein total modernes Regenbogenland.« So weit, so gut: Im Vergleich zu anderen Ländern funktionieren Sozialstaat und Rechtssystem bei uns. Die Wirtschaft brummt, eine leichtfüßige und sympathische Fußballnationalmannschaft repräsentiert uns, und wer auf der Höhe der Zeit feiern will, macht das in ­Berlin im »besten Technoclub der Welt«, der übrigens auch von schwulen Technofans sehr geschätzt wird. Vielleicht ist es also kein Wunder, wenn man in China oder anderswo glaubt, die Deutschen seien nicht nur fleißig und zielstrebig, sondern auch supertolerant und gut drauf. Nur: Wer ein bisschen näher dran sitzt, sollte wissen, dass das Unsinn ist.

Deshalb wundere ich mich sehr, dass sich die Deutschen offenbar selbst für ganz besonders vorbildlich halten. Anders lässt sich nicht erklären, wie aufgescheucht hier dauernd auf Vorgänge in anderen Ländern reagiert wird, zum Beispiel auf die Entscheidung der Schweizer, die Einwanderung aus der Europäischen Union strenger zu kontrollieren. Die Deutschen galten mal als geradezu krankhaft selbstkritisch – als ein Volk, das sich wenig erlaubt, vor allem nicht die kleinen nationalistischen oder antisemitischen Gefühle, mit denen sich fast alle anderen Völker gerne die Zeit vertreiben. Das hat sich längst ge­ändert. Nur ein ausgeprägtes nationales Selbst­bewusstsein kann erklären, dass viele Politiker in letzter Zeit gern davon reden, wie viel Deutschland der Welt zu geben hätte. Deutschland sei eigentlich zu groß, um immer nur an der Au­ßenlinie der Weltpolitik zu stehen, sprach unser Außenminister Frank-Walter Stein­meier vor Kurzem. »Dies ist das beste Deutschland, das wir kennen«, befand unser Bundespräsident Joachim Gauck vor internationalem ­Publikum – und zog daraus den Schluss, dass ein dermaßen gutes Land eben auch die entsprechende Rolle in der Welt einnehmen ­müsse. Im Klartext heißt das natürlich, wir sollten uns in mehr Kriege einbringen. Seit wann ist es vorbildliche Politik, Kriegsbereitschaft zu signalisieren? Die Wahrheit ist: Was echten gesellschaftlichen Fortschritt – also die Chancengleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft – angeht, ist Deutschland eher hinterher. Nur merken wir das gar nicht, weil wir so zufrieden damit sind, die Eurokrise nicht zu spüren und nicht von Wladimir Putin regiert zu werden.

In Deutschland gibt es keine rezeptfreie Notfallverhütung, anders als etwa in den USA, Spanien oder Frankreich. Stattdessen wird ­darüber diskutiert, ob es Frauen zuzutrauen ist, die Pille danach ohne vorherige ärztliche ­Beratung und Rezept einzunehmen, oder ob sie die dann mit »Smarties« (Jens Spahn, CDU) verwechseln. In Deutschland können homo­sexuelle Paare heiraten, aber ihre Partnerschaften sind den heterosexuellen Ehen in vielen Hinsichten nicht gleichgestellt – zum Beispiel im Adoptionsrecht. Da mögen Russland, Saudi-Arabien oder Polen schlimmere Bedingungen aufweisen. Aber in Schweden, Großbritannien oder Belgien haben alle verheirateten Paare die gleichen Rechte, unabhängig vom Geschlecht. In Deutschland dürfen EU-Mitglieder einwandern – aber wenn sie aus den falschen Ländern kommen, etwa aus Bulgarien oder Rumänien, dann zückt eine Regierungspartei ausländerfeindliche Parolen. Überhaupt: Dafür, dass Deutschland eines der reichsten und größten Länder der Europäischen Union ist, nehmen wir sehr wenige Flüchtlinge auf. Sie kommen gar nicht erst bei uns an, weil Deutschland Anfang der Nullerjahre dafür sorgte, dass die EU die Dublin-II-Verordnung umsetzt – und seitdem einen großen Teil der Asylbewerber nach Griechenland oder Italien abschiebt. In Deutschland gibt es für türkischstämmige Deutsche selbst in der dritten Generation keine Mög­lichkeit, auf Dauer die doppelte Staatsbürgerschaft zu besitzen – sie müssen sich mit Anfang zwanzig entscheiden. Politisch gewollt stagniert hier seit Jahren die Entwicklung der Löhne: Ein Fünftel der Kinder ist bei uns von Armut bedroht, und das in dem Land mit dem weltweit vierthöchsten Bruttoinlandsprodukt. Eine konservative Partei macht seit bald einem Jahrzehnt konservative Politik, und das merkt man unserer Gesellschaft an.

Wir leben in einem Land, das den Schwächsten nicht hilft, das Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität diskriminiert, das Frauen für nicht ganz zurechnungsfähig hält und dessen oberste Politiker der Meinung sind, die Welt solle mehr von unseren Soldaten zu Gesicht bekommen. Dieses Deutschland sollte nicht das beste sein, das wir kennen wollen.

Dieser Text ist in der aktuellen April-Ausgabe erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.