Wir blicken in Gesichter rothaariger Damen. In die grünen Augen schwarzhaariger Schönheiten. Es sind Momentaufnahmen von unschätzbarem Wert. Es sind jüngst aufgetauchte Aufnahmen von Pionieren. Sechshundert Jahre hat es gedauert. Es einen Meilenstein der Portraitkunst zu nennen ist nicht übertrieben: Das 21. Jahrhundert hat das Katzen-Selfie hervorgebracht.
Im 15. Jahrhundert kam das Leben in die Kunst. Erstmals malte man einzelne Menschen auf Portraits – eine absolute Sensation, waren zuvor nur Menschen in Gruppen, historische Motive und Darstellungen von Heiligen üblich. Der Mensch habe sich damals als geistiges Individuum erkannt, schrieb der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt 1860 in »Die Kultur der Renaissance in Italien«. Dem Portrait folgten die Selbstportraits. Aber erst durch die Entdeckung der Fotografie im 19. Jahrhundert konnten diese Selbstportraits im großen Stil entstehen und sich durch die Erfindung des Internets im 20. Jahrhundert weltweit verbreiten, bis sie im 21. Jahrhundert unter dem Begriff »Selfie« ein Massenphänomen wurden.
Nun hat sich offenbar die Hauskatze als geistiges Individuum erkannt. Die Seite Sad and Useless gibt Einblick in die noch junge Kunstform des Katzen-Selbstportraits. Auffallend ist die unterschiedliche Qualität der Selbstinszenierung, was wohl auf handwerkliche Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Unschärfe, Probleme beim Bildaufbau und Fokusschwierigkeiten sind häufige Merkmale der Aufnahmen.
Andere Fotos überzeugen durch die ausgewogene Komplexität der Farbinszenierung, wie etwa das Motiv »Katze auf Couch«, das durch das Zusammenspiel zweier Grün-Nuancen und den Blick des Betrachters durch die Reduzierung des Bildaufbaus auf die Stofflichkeit des Sitzmöbels lenkt sowie das virtuose Spiel zwischen Licht und Schatten, welches manchen an die Kunstfertigkeit niederländische Meister erinnern mag. Dadurch und durch die nur leicht ausgestreckte Pfote drängt sich allerdings der Verdacht auf, es handle sich möglicherweise gar nicht um ein Selbstportrait.
Auch dies, das lehrt die Geschichte, ist typisch für das Aufkommen einer neuen Kunstform: Sie wird sogleich zu kopieren versucht. Da seit langem bekannt ist, dass Karl Lagerfelds Katze Choupette, eine weiße Rassekatze mit blauen Augen, sich mit einem iPad vergnügt, liegt der Verdacht nahe, Tablets seien aufgrund ihrer Größe das am ehesten geeignete Tool für Katzenselbstportraits.
Dennoch: Es wird mehr über die Hintergründe der Entstehungsgeschichte zu erforschen sein. Wurden die »Cat Selfies«, so der Fachbegriff, der aus dem Amerikanischen stammt, auf einem iPad, einem iPhone, einer Digitalkamera oder anderen Gerätschaften aufgenommen? Wurden die Katzen dazu angeleitet oder folgten sie ihrem Instinkt? Sind sie sich ihrer Vanitas bewusst?
Die Fachwelt ist aufgefordert, dieses Phänomen näher zu beleuchten.