Freizeit Runter

Freizeit: Runter
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom Dezember 2009 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.

Nur fliegen ist schöner: Alle Jahre wieder versuchen Skispringer aus aller Welt ihr Glück bei den Olympischen Winterspielen -und manche von ihnen landen direkt auf dem Hosenboden. In der NEON-Dezember-Ausgabe von 2009 hat sich unser Autor Philipp Schwenke selbst daran versucht.

Text: Philipp Schwenke | Fotos: Urban Zintel

Jetzt, kurz vor meinem Untergang, kann ich es zugeben: Ich war nie mutig. Gut, ich habe mal einen Kopfsprung vom Fünfer gemacht (Bauchklatscher) und in einer Bar eine Fran­zösin an­ge­sprochen, die aussah wie die junge Sophie Marceau (dito) – aber sonst? Nichts hätte auf ein Ende in Tollkühnheit hingedeutet, und doch steht es mir bevor, drei Springer noch.
Wenigstens ist die Aussicht gut. Lauscha, Thü­rin­gen, glitzert unter einer Schneedecke und schmiegt sich unter uns ins Tal. Von der Plattform, auf der wir warten, können wir den Häusern in die Schornsteine schauen. Ein Dorf. Ein Idyll. Nur die Sprungschanze, die vor uns steil zu Tal stürzt, droht uns das Schlimmste an. Zwei Springer noch.

Ich lege schon mal die Ski auf den Boden und versuche, sie möglichst souverän unter die Füße zu schnallen. Klappt nicht, gerate ins Schlingern. Der Boden neigt sich auch hier schon ein wenig, wer nicht aufpasst, schlittert direkt in den Anlauf der Schanze hinein und von dort aus … – nicht drüber nachdenken. Ein Springer noch. Die Augen hinter mir in der Schlange starren angespannt hinunter, wir machen das hier alle zum ersten Mal.

»Nächster!« Von unten scheppert die Stimme durchs Megaphon und meint mich. Nun also: vorsichtig nach vorne an die Kante rutschen, Ski in die beiden Spuren schieben. Rechts und links vom Anlauf bieten zwei Eisenstangen letzten Halt, dort festkrallen. »Du kannst!« Lang­sam nach vorne kippen, in die Hocke ­sinken, Anfahrtsposition. Das ist schon extrem schräg hier. Hände hinterm Körper, fest­klammern. Die Ski zeigen steil ins Tal, Richtung Exitus. »Jetzt einfach loslassen, nur Mut!« Haha. Wäre es nicht viel mutiger, das Ganze abzublasen, hinunterzugehen, vorbei an denen, die schon gesprungen sind, mitleidige Blicke zu ernten, sich ins Clubhaus zu setzen und eine schöne Tasse Tee zu trinken?

Das Clubhaus des Wintersportvereins Lauscha ist gemütlich, da haben wir uns am Morgen getroffen. Holzvertäfelte Wände, Pokale und eine lange Tafel mit siebzehn Menschen aus so gut wie ganz Deutschland. Warum sie hier sind? Thomas aus Schwaben sagt: »Ich hab vor dem Fernseher bei der Vier-Schanzen-Tournee eine dicke Lippe riskiert.« Von wegen: Das könne ja wohl nicht so schwer sein. Dafür ­bekam er von seiner Freundin zum Geburtstag den Kurs »Skispringen für Jedermann« geschenkt, und hier sitzt er nun. »Jedermann« trifft es ganz gut. Die meisten sind Männer, die jüngsten zwölf, dreizehn Jahre alt, der älteste fünfzig; graue Haare, schlaffe Schultern, kleine Bäuche, einer ist kahlrasiert bis auf einen faustgroße Stelle am Hinterkopf, aus der fünf Dreadlocks wachsen. »Geschenkt bekommen« ist bei der kurzen Vorstellungsrunde die häufigste Er­klärung. Hinter der Theke im Clubhaus zeigt ein stummer Fernseher den Skiflug-Weltcup von Vikersund. Harri Olli aus Finnland setzt erst nach 219

Metern Segeln auf dem Schnee auf und öffnet seinen Helm mit überlegener Lässig­keit. Wer »Skispringen für Jedermann« verschenkt, will als Gegengeschenk einen Helden zurück.

So einen wie Jens Greiner-Hiero, ein blonder, drahtiger Mann mit der Statur von Jens Weißflog, des Skisprungflohs und erfolgreichsten deutschen Skispringers überhaupt. Greiner-Hiero kann auch ordentlich weit springen: Sechs­facher Seniorenweltmeister ist er, einmal deutscher Vizemeister. Bei Kaffee und be­leg­ten Brötchen erklärt er uns die Grundlagen des Sports, man muss einiges beachten: Arme ­locker, Rücken gerade, Unterschenkel dreißig Grad, nicht von den Fußspitzen abspringen – und Gleichgewicht, Gleichgewicht, Gleichgewicht! Bevor wir für die Trockenübungen rausgehen, muss jeder unterschreiben, dass der WSV 08 Lauscha im Fall einer Verletzung von der Haftung ausgeschlossen ist.

Wir üben also im Schnee, ohne Ski: Hocke, Absprung, langmachen, Landung. Dann ­stellen wir uns auf wackelige Wippbretter, um die ­Balance zu trainieren. Der mit den fünf Dreadlocks stellt sich am geschicktesten an, das ist Ronny. Abgesehen von den Dreadlocks trägt er einen Ring durch die Lippe, einen Ring durch die Nasenscheidewand, einen durch die rechte Augenbraue sowie einen Stift in der ­linken Augenbraue. Ronny war mal Skispringer in der DDR-Jugendauswahl, mit vierzehn hat er es dann gelassen, nachdem er nach einem Sturz zwei Wochen nicht mehr sitzen konnte. »Aber ich wollte noch mal wissen, wie es ist«, sagt er, während wir der Reihe nach ­einen Übungshügel hinunterhopsen. Über uns schaut die Schanze drohend herab, es sieht aus, als würde der Berg uns die Zunge raus­stre­cken. 75 Meter Anlauf, steil wie das Matterhorn, Anlaufgeschwindigkeit etwa sechzig Stundenkilometer. Schanzenrekord: 108 Meter. Man muss komplett bescheuert sein, dort zu springen. Wir witzeln herum. Die Nervosität.

Weil ich mir vorher schon gedacht hatte, dass das Schwierigste an diesem Sport der Kampf gegen die Furcht ist, habe ich jemanden um Rat gefragt, der sich damit besser auskennt als jeder andere Mensch. Sein Name ist Michael Edwards, die meisten Menschen kennen ihn als »Eddie the Eagle«, schlechtester Skispringer der Geschichte, Held der Olympischen Spiele in Calgary 1988. Eddie war nie ein Athlet, aber er hatte sich mit Anfang zwanzig in den Kopf gesetzt, einmal an Olympia teilzunehmen. Er suchte sich eine Sportart, in der es in England keine Konkurrenz gab, und Skispringen war dort praktisch unbekannt. Eddie trug eine ­riesige Brille, die immer beschlug, hatte schiefe Zähne und sprang nur halb so weit wie die Konkurrenz. Die Leute liebten ihn dafür. Heute ist er Handwerker in der Nähe von Bristol, man findet ihn im Telefonbuch, und als ich ihn anrief, verputzte er gerade bei einem ­Kunden die Wand. Ich wollte wissen, wie er die Angst besiegt hat. »Gar nicht«, sagte er. »Ich habe vielleicht 85 000 Sprünge in meinem Leben gemacht und ich habe immer noch Angst.« Aber die Angst sei gut. Angst weckt Konzentration, Konzentration verhindert Stürze. »Und das Schlimmste, was dir passieren kann, ist keine Verletzung, sondern der Walk of Shame!« Der Rückweg in Schmach und Schande, nämlich zu Fuß die Schanze wieder runter.

Wir stapfen die Schanze erst einmal hinauf. Ausrüsten. Jeder bekommt ein paar Ski, achtzig Zentimeter länger als der eigene Körper, zum gewöhnlichen Abfahrtslauf so geeignet wie Besenstiele zum Sushi-Essen. Außerdem Stiefel und einen steifen, nervenaufreibend bunten Overall aus Kunststofffasern. Siebzehn Menschen gehen in die Umkleidekabine hinein, siebzehn ungelenke Power Ranger stampfen wieder hinaus. Die Stiefel neigen sich mit ihrem starren Schaft ein wenig nach vorne, klemmen die Waden ab und zwingen uns zu gebeugten Knien und Cowboygang. Obendrein ziehen sich die elastischen Anzüge nach dem Anziehen wieder zusammen und kneifen übel im Schritt. Die ganze Zeit sieht man erwachsene Männer, die sich am Hintern herum­zippeln.

Wir üben ein wenig zu fahren, den Auslauf der Schanze hinunter, dann gibt es Mittag­essen, dann steigen wir die Schanze wieder hinauf, und nun kommen wir langsam zurück an den Punkt, an dem ich mit Skiern unter den Füßen im Anlauf hocke. Die Schanze neigt sich immer noch bedrohlich ins Tal, meine Ski in ihren Spuren neigen sich immer noch bedrohlich mit ihr, und ich klammere mich immer noch an die Eisenrohre. Hinter mir klappern die anderen mit ihren Skiern, aber keiner sagt etwas, wahrscheinlich freuen sie sich über jede Sekunde Aufschub.

Eddie the Eagle hat gesagt, gegen Nervosität helfe extreme Konzentration auf das, was kommt. Ich konzentriere mich leider auf das, was war, zum Beispiel die Entdeckung vorhin, dass Ronny auf seinem rechten Unterarm die Tätowierung einer blutigen Fleischwunde trägt. Elle und Speiche sind freigelegt, es sieht übel aus. Erinnerung an eine alte Skisprungverletzung? Habe lieber nicht gefragt. Rutsche unschlüssig hin und her.

Dann fange ich an, Selbstgespräche zu führen. Stumm, im Kopf, mit Reporterstimme. Das hilft. »Philipp Schwenke jetzt im Anlauf. Steht gut, wirkt aber nervös heute. Ist mit einem leichten Trainingsrückstand hier nach Lauscha gereist, der Leverkusener, eines der ganz großen Nachwuchstalente hier im Kader.« Jaa, Schwenke, Supertyp! Riesentalent! Gleich: Weltklassesprung!
Allerdings steht Schwenke lächerlich lang oben auf der Schanze im Anlauf. Schwenke sollte mal hinnemachen. Loslassen?

Schwenke betrachtet seine quietschgelben Ski­spitzen und fragt sich, warum Sportaus­rüs­tung eigentlich immer in so aufdringlichen Farben daherkommen muss.
Aber da macht er’s, da macht er’s! Endlich, Schwenke traut sich, öffnet die Finger, die Schwer­kraft nimmt ihn begeistert mit nach unten, er saust hinab zum Schanzentisch, der kleine Tannenzweig, der den Absprung markiert, rast näher, die Skispitzen schießen über die Kante hinweg, jetzt springen, raus aus der Hocke, langstrecken, anspannen, auf den Luftwiderstand legen – und in der Sekunde, in der ich abhebe, bin ich eigentlich wieder gelandet. Während ich etwas steif auslaufe, ist es wohl Zeit, etwas zuzugeben: Die Schanze, von der wir springen, ist nicht die große. Nicht die mit den 75 Metern Anlauf und den 108 Metern Schanzenrekord. Sondern wir springen von der Anfängerschanze. Ihr Schanzentisch ist dreißig Zentimeter hoch, dahinter fällt der Hang auch nicht fünfzig Meter in die Tiefe, sondern vielleicht sechs oder sieben. Der Flug hinunter dauert höchstens so lange, wie man braucht, um »Matti Nykänen« zu sagen. Ich kann nicht einmal beschreiben, wie es sich anfühlte, in der Luft zu sein, so kurz war ich es. Fühlte ich mich wie ein Adler? Vielleicht wie ein toter Adler, der dem Präparator vom Tisch fällt. Meine Sprungweite: um die fünf Meter. Aber Eddie the Eagle ist ja auch nicht ein Held geworden, weil er weit gesprungen ist, sondern weil er überhaupt gesprungen ist.

Insofern werden an diesem Nachmittag in Lauscha siebzehn Helden geboren. Aber ich fühle mich nicht nur deswegen mit Eddie ­verbunden. Nach Calgary wurde die Quali­fikation für Olympia verschärft, damit nie wieder einer wie er eine Lachnummer aus dem Sport machen konnte: Alle Teilnehmer mussten nun bei internationalen Wettbewerben zum besten Drittel der Springer gehört haben. Das hätte auch mich aussortiert. Ich fädele ­jedes Mal vor dem Absprung meine Ski so unge­schickt um die Eisenstangen zum Fest­halten, dass ich mühsam wieder zurückschlingern muss; stürze im Auslauf und schlage ei­nem der Trainer meinen rechten Ski nur knapp am Gesicht vorbei; der Schwabe ­Thomas stolpert auf dem Weg in den Anlauf und rutscht die Schanze auf dem Bauch hinab. »Lief die ­Kamera?«, fragt er unten. – »Nein.« – »Haupt­sache!« Das kommt also nicht auf das Erinnerungsvideo, das der WSV für die Teilnehmer dreht, im Gegensatz zu all den Stürzen: Nur die Hälfte der Sprünge endet mit einer ordentlichen Landung, viele stattdessen mit dem Slapstick-Aufschlag. Der geht so: Der Springer kippt bei der Landung nach hinten um, die Ski fahren weiter, und weil der Springer noch mit den Füßen drinsteckt, bleibt ihm nichts, als auf dem Rücken hinterherzuschlittern.
Aber es macht wirklich Spaß.

Nach dem zweiten, dritten Sprung sind die Gesichter am Start nicht mehr starr vor Anspannung, sondern zeigen die endorphingetränkte Seligkeit, die sich nach einem echten Kick einstellt, und erst später am Nachmittag kommt die völlige Erschöpfung dazu. Ab dem zehnten, zwölften Sprung schleppen wir uns nur noch ächzend die Treppen wieder hinauf, die Overalls sind höllenwarm, Schweiß, verdammte Unsportlichkeit, zum Glück ist der Nachmittag dann bald vorbei.

Fehlt nur noch das Abschlussspringen. Neben der Schanze steht ein Siegerpodest, das muss ja für irgendwas verwendet werden. Es gibt zwei Durchgänge, mein erster Sprung: sieben Meter, Platz im Mittelfeld. Schwenke hofft auf Steigerung im zweiten Durchgang.

Ein letztes Mal Ski anlegen, Bindung fest­popeln, zum Anlauf schlingern. Schwenke hat angekündigt, sich nach diesem Wettbewerb aus dem aktiven Skispringen zurückzuziehen, und natürlich soll der letzte Sprung ein Ausrufe­zeichen hinter einer großen Sportler­­kar­riere werden. Er packt die beiden Eisenrohre und stößt sich mit Kraft hinab in die Spur, ­Hocke locker, Hände am Körper, die Ski rasen wie nie zuvor durch ihre frostigen Kanäle. Ihm schießt das Markierungstännchen ent­gegen, das Ende des Schanzentisches, die letzte Kraft seiner Oberschenkel entlädt sich in einer gewaltigen Explosion, die Beine schnappen exakt am richtigen Punkt aus­einander und stoßen Schwenke mit Wucht weg von der Schanze, unten geht ein Raunen durch die Menge, und einer sagt später: »Ich bin extra aufgestanden, weil ich sehen wollte, was los ist.«
Los ist Folgendes: Trotz der Größe des Augenblicks hören meine Füße beim Absprung nicht auf die vorherigen Anweisungen des Trainers Jens Greiner-Hiero. Ich springe mit den Zehen ab und nicht vorschriftsmäßig mit der ganzen Fußsohle. Die Fußspitzen zeigen deswegen nach dem Abheben nach unten, die Ski drehen sich ebenfalls dorthin, leider jeder für sich, völlig unkoordiniert, der Rest meines Körpers kann der Rotationsbewegung nichts entgegensetzen und kippt nach vorne. Dort erwartet mich bereits der Boden. Genau kann ich es nicht mehr rekonstruieren, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich den Sturz gleichzeitig mit dem Gesicht und dem Hintern abgefangen habe. Weite: 8,50 Meter, ­minus ­einen Meter wegen nicht vorschriftsmäßiger Landung. Ein faustgroßer blauer Fleck an der linken Wade und ein solider ­neunter Platz sind die Belohnung für diese Tat.

Gewonnen hat natürlich Ronny. 12,5 Meter, Schanzenrekord. »Wenigstens haben wir ­unser Leben lang was zu erzählen«, sagt Thomas bei der Siegerehrung. Die Schanze wird in den Geschichten übrigens mit jedem Jahr und ­jeder Erzählung einen Meter höher.

Tipps

Hinkommen
Am einfachsten mit dem Auto. Lauscha liegt im Thüringer Schiefergebirge, auf halber Strecke zwischen München und Berlin. Oder per Zug: zum Beispiel über Nürnberg nach Sonneberg. Von dort fährt regelmäßig eine Bahn nach Lauscha. Die Termine für die kommenden Skisprungkurse stehen unter wsv08lauscha.de.

Unterkommen
Lauscha hat Dutzende von günstigen Pensionen und Gasthäusern. Das Hotel Beck ist das Hilton unter ihnen. Zimmer ab 38 Euro. In der Hotelsauna kann man nach dem Springen die Schmerzen ausschwitzen: hotel-beck.com.

Rumkommen
Man muss die Hänge nicht hinunterspringen, fahren geht auch: Es gibt vier Ski­pisten. Wem selbst das zu aufregend ist, der geht ins Museum für Glaskunst. Lauscha ist »die Geburtsstätte des gläsernen Christbaumschmuckes« (Eigenwerbung).

Unbedingt
An Franzbranntwein und Magnesium denken. Das Wieder-und-wieder-Hinauflaufen erzeugt unfassbaren Muskelkater. Trotzdem auf die große Schanze steigen. Und: Ein paar Skispringerlieder der Wiener Musiker Christoph & Lollo mitnehmen.

Bloß nicht
Die Einheimischen auf ihren »niedlichen sächsischen Dialekt« ansprechen: Lauscha liegt in Thüringen.