Freizeit Selfie-Protest: Hashtag #notamartyr

Freizeit: Selfie-Protest: Hashtag #notamartyr
Text: Katharina Pfannkuch

Ein Teenager im Libanon posiert mit Freunden für ein Foto, wenige Minuten später reißt ihn eine Autobombe in den Tod. Junge Libanesen wehren sich gegen die Gewalt in ihrer Heimat. Ihre Waffe: Selfies.

Die Blicke sind ernst, die Botschaften sind es auch. Charbel hat sich ein Post-It auf die Stirn geklebt: „Ich will kein Märtyrer werden wie mein Vater“, so seine Selfie-Botschaft. Auf der Facebook-Seite „I am NOT a martyr“ und unter dem Twitter-Hasthag #notamartyr veröffentlichen tausende Libanesen seit rund zwei Wochen Selbstporträts und drücken damit ihre Hoffnungen für die Zukunft ihrer Heimat aus. „Ich möchte mich in meinem Land einfach nur sicher fühlen“, lautet die Botschaft von Sarah. „Ich wünsche mir ein besseres Leben für mein Kind“, steht auf einem Blatt Papier, das Hani in die Kamera hält, während seine schwangere Frau ein Selbstporträt der werdenden Eltern mit dem Smartphone schießt. „Wir freuen uns über das große Interesse an unserer Idee“, sagen die Organisatoren der Kampagne. Obwohl sie gerade in der Arbeit an #notamartyr versinken, nehmen sie sich Zeit, um ein paar Fragen zu beantworten.

„Die Idee zu #notamartyr entstand direkt nach dem Bombenanschlag am 27. Dezember in Beirut“, erzählen sie. Siebzig Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt, mindestens fünf starben. „Im Libanon hat man sich daran gewöhnt, dass politische Parteien die Todesopfer von Anschlägen als Märtyrer bezeichnen und für ihre Zwecke nutzen wollen. Hilflosigkeit breitet sich in der Öffentlichkeit aus“, so die Organisatoren der Kampagne. Doch dieses Mal wehren sich die Jugendlichen des Landes gegen die Hilflosigkeit. Denn unter den Todesopfern des Anschlags vom 27. Dezember war auch der erst 16-jährige Mohammed El-Shaar. Während die internationalen Medien sich zunächst auf den Oppositionspolitiker Mohamed El-Shatar konzentrierten, der ebenfalls bei dem Anschlag starb, löste in sozialen Netzwerken der Fall des bis dahin unbekannten Mohammed El-Shaar große Betroffenheit aus.

Zwei Fotos von El-Shaar kursieren im Internet: Eines zeigt ihn gemeinsam mit drei Jugendlichen in unmittelbarer Nähe des Anschlagortes. Die Teenager lächeln in die Kamera. Auf einem weiteren, kurz nach der Explosion aufgenommenen Bild, ist El-Shaars Leichnam zu sehen. Sein Blut rinnt über den grauen Asphalt. Ein Freund von El-Shaar hatte das erste Foto von sich, zwei Freunden und El-Shaar wenige Minuten vor dem Anschlag mit seinem Smartphone aufgenommen. In der Blogosphäre gilt das Bild bereits als das „tragischste Selfie 2013“. Ein Sechzehnjähriger wird zu einem traurigen Symbol der Gewalt.

Für die Organisatoren von #notamartyr war nach dem Anschlag klar, dass etwas geschehen muss: „Wir spürten, dass die Menschen ein Mittel brauchen, um ihre Frustration über die Gewalt auszudrücken“, erzählen sie. Und nicht nur das: „Auch die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in einem Land, in dem man nicht ständig mit dem nächsten Anschlag rechnen muss, brauchen ein Forum“, sind sie überzeugt. Mit dem Ziel, einen solches Forum zu schaffen, ging #notamartyr am 30. Dezember auf Twitter und Facebook online. Junge Libanesen sind aufgerufen, Selbstporträts von sich online zu stellen: In Gedenken an Mohammed El-Shaar, dessen Selfie traurige Berühmtheit erlangte, und um ein klares Zeichen gegen Gewalt und Angst zu setzen. Täglich twittern User Fotos von sich und ihren Botschaften oder schicken sie an die Facebook-Seite „I am NOT a martyr“ die mittlerweile über 8000 Fans hat.

Die Resonanz ist überwältigend, doch die Köpfe hinter der Kampagne wollen anonym bleiben. „Unsere Namen nennen wir nicht. Wir möchten nicht, dass über uns berichtet wird, sondern über die Selfies und die Botschaften. Sie sind das, was zählt“, erklären sie. Nicht die eigene Person, sondern die Zukunft ihrer Heimat steht im Mittelpunkt ihres Engagements. Und nicht nur im virtuellen Raum engagieren sie sich, auch das „real life“ nutzen sie als Forum: Am 31. Dezember kamen sie und zahlreiche ihrer Mistreiter in Beirut zu einer Mahnwache zusammen. „Es sollte der symbolische Abschluss eines Jahres voller Gewalt werden und uns Anlass zur Hoffnung auf ein friedlicheres 2014 geben“, erzählen die Organisatoren. Da ahnten sie noch nicht, dass nur wenige Tage später ein weiterer Bombenanschlag Beirut heimsuchen würde.

Entsprechend groß war der Schock, als am 2. Januar im Süden der Stadt eine Autobombe detonierte. Ein Ableger der Terrororganisation Al-Kaida mit dem Namen „Islamic State of Iraq and the Levant“ bekannte sich zwei Tage später zu dem Anschlag in einem vor allem von Schiiten bewohnten Viertel von Beirut, bei dem fünf Menschen starben. Die Normalisierung von Gewalt gehört zu den Problemen des Libanon, die am häufigsten in der #notamartyr-Kampagne thematisiert werden. Aus dem Gefühl der Ohnmacht angesichts der anhaltenden Gewalt resultiert oft Resignation. Dagegen gehen die Organisatoren der Kampagne an: „Wir möchten eine Plattform schaffen, die es den Menschen ermöglicht, im eigenen Land ihre Stimme zu erheben“, erklären sie. Und die Libanesen nutzen diese Plattform begeistert. „Ich möchte meine zukünftige Familie nicht in Angst gründen müssen!“, so die Botschaft von Maya. Auf einem anderen Bild heißt es „Ich möchte Whatsapp nutzen, um zu sehen, was meine Freunde gerade so machen….nicht, um zu sehen, wann sie zuletzt online waren und ob sie überlebt haben“. Es sind eigentlich ganz normale Wünsche – doch im Libanon sind es derzeit noch ferne Träume.

Nicht nur um Gewalt und Sicherheit geht es in den Botschaften der virtuellen Selfie-Aktivisten: Von Säkularismus über Korruption, von Geschlechterrollen über Toleranz gegenüber Homosexuellen, von Bildungspolitik über die Justiz reicht das Spektrum der Themen.

Die Botschaften geben Einblick in den Alltag junger Libanesen. Auch die Kommentare und „Gefällt mir-Klicks“ auf der Facebookseite von #notamartyr lassen erkennen, was sie beschäftigt: Ein Foto zeigt vier Personen, die ihre Gesichter hinter Schildern verbergen. Sie alle gehören unterschiedlichen Religionen an, steht darauf geschrieben, mit ihrer Freundschaft hätten die verschiedenen Glaubensrichtungen jedoch nichts zu tun. 274 Personen gefällt das – doch im Kommentarbereich taucht auch die Frage nach Atheisten auf, die nach wie vor eine marginale Rolle im Libanon spielen: 18 Religionen leben hier auf knapp 10.450 Quadratkilometern zusammen. Die konfessionell und religiös geprägten Konflikte des Nachbarlandes Syrien erfassen das kleine Mittelmeerland immer mehr.

Homosexualität ist ebenfalls ein Thema: Hamed Sinno von der international erfolgreichen libanesischen Band Mashrou‘ Leila machte aus seiner Liebe zu Männern noch nie ein Geheimnis. Auch auf #notamartyr setzt er sich mit klaren Worten für Toleranz ein: „Ich möchte die Hand meines Freundes halten können, ohne Angst vor der Polizei haben zu müssen“. Artikel 534 des libanesischen Strafgesetzbuches stellt „unnatürliche sexuelle Handlungen“ unter Strafe. In der Praxis fallen homosexuelle Handlungen darunter, sie werden mit bis zu einem Jahr Haft bestraft. Der Mut des Musikers Hamed Sinno gefällt immerhin 187 Facebook-Nutzern.

Wenn es nach den Organisatoren von #notamartyr geht, soll es nicht nur bei Selfie-Botschaften bleiben. „Es wird weitere Aktionen geben, wir sind mitten im Brainstorming“, erzählen sie NEON. Ein erster Schritt ist schon gemacht: Von nun an wählen die Organisatoren wöchentlich ein Foto aus, dessen Botschaft als „Thema der Woche“ diskutiert werden soll – auf Facebook, in Blogs, auf Youtube, im Fernsehen, aber auch in Cafés, auf Schulhöfen und auf der Straße. „Wir wollen das Selfie zum Anstoß für Diskussionen machen, um gemeinsam Lösungen zu finden“,erklären die Köpfe hinter #notamartyr auf ihrer Facebook-Seite. Die Botschaft, die der Libanese Zade erst am Mittwoch auf der Seite veröffentlichte, bringt es auf den Punkt: „Libanons Haupt-Export sollte nicht seine Bevölkerung sein“.

Katharina Pfannkuch studierte Islamwissenschaft und Arabisch unter anderem in Kiel und Dubai. Sie veröffentlichte zwei Bücher über Islamic Finance und arbeitet seit 2012 als freie Journalistin, u.a. für Zeit Online, Spiegel Online, Cicero und die Deutsche Welle. Was sie bei ihrer letzten Reise durch Tunesien und Ägypten besonders beeindruckte: „Die ungebrochene Kreativität und Energie junger Leute, die an ihre Revolutionen glauben.“