Jedes Kind der Neunziger kennt sein Gesicht, das sich so gut zur Karikatur eignet: Mit breitem Grinsen und damals schon hoher Stirn wurde Ray Cokes als MTV-Moderator zur Ikone des Musikfernsehens in Zeiten, als Musikfernsehen noch eine Bedeutung hatte. In seiner Show "MTV's Most Wanted" begrüßte er seinerzeit die größten Stars zum turbulenten Talk. Mit anarchischer Haltung und bissigem Humor ebnete Cokes den Weg auch für deutsche Nachahmer wie Stefan Raab oder Oliver Pocher.
20 Jahre später ist Cokes zumindest für Musikfans wieder Kult: Als Moderator von "Ray's Reeperbahn Revue" läutet er beim Reeperbahn Festival jeden Veranstaltungstag ein und ist damit seit der ersten Ausgabe 2009 zum unverzichtbaren Bestandteil der Musiksause auf dem Kiez geworden. Pünktlich um 17 Uhr begrüßt er im Schmidt Theater am Spielbudenplatz drei bis vier Bands, die er sich persönlich aus dem riesigen Programm gepickt hat. Die Bands spielen ein kurzes Akustik-Set und setzen sich anschließend zum Plausch mit dem Conferencier auf die Couch.
Ray Cokes: Revue mit Selbstironie und Spontanität
Das Publikum genießt dazu in Plüschsesseln das erste Bier des Tages. Ein Zuschauer wird zudem als Barkeeper ausgewählt, der die Bands während der einstündigen Show mit Drinks versorgt. Cokes ist alte Schule, er bezieht das Publikum gerne ein. Die Revue lebt von seiner Selbstironie und Spontanität. Bei aller Interaktion gehen die Witze des Briten aber nie auf Kosten anderer. Er möchte vielmehr eine Verbindung zum Publikum herstellen: "Ich lache nicht über euch", so sein Motto, "ihr dürft aber über mich lachen."
Dieses Konzept geht so gut auf, dass Cokes in den letzten Jahren auf der Reeperbahn eine Wiedergeburt als Showmaster erlebt hat. Ironischerweise an jener Stelle, an der seine Karriere als MTV-Moderator einst endete: Damals erwarteten Fans auf dem Spielbudenplatz einen Auftritt der Toten Hosen im Rahmen von Cokes' Show, die Band wurde allerdings nur über die Leinwand zugeschaltet. Der falsch informierte Moderator glitt die Sendung daraufhin aus der Hand, kurz darauf kündigte er beim Sender.
Heute ist diese Episode nur noch eine blasse Erinnerung an Zeiten, die Cokes in einem Interview zuletzt folgendermaßen beschrieben hat: "MTV war ein so wichtiges Format in den 1990er-Jahren (...) Wir verhandelten Identität, Rassismus, Sexualität. Das war für junge Leute extrem wichtig." Mit kommerzialisiertem Reality-TV hätten die Macher dem Sender später jegliche Relevanz geraubt.
Cokes macht das Beste aus der veränderten Musiklandschaft. Er ist Liebhaber geblieben und hört sich neue Bands über Streamingdienste an. Er lebt in Spanien, moderiert aber für den Berliner Radiosender FluxFm eine regelmäßige Show - und einmal im Jahr, immer Mitte September, wird er zum Kiezkönig auf dem Reeperbahn Festival. Hier kann er seine immer noch brennende Leidenschaft als Entdecker neuer und aufregender Acts sehr überzeugend ausleben. Wer seine Show über die Jahre verfolgt hat, kann bestätigen: Was hier empfohlen wird, lohnt eigentlich immer den einen oder anderen Hördurchlauf.
Cokes sagt über sich selbst, dass er bei allen ironische Verweisen auf die gute, alte Zeit, die er so gerne in seine Moderationen mischt, nicht nostalgisch sei. Aber seine "Reeperbahn Revue" ist Musiknostalgie im allerbesten Sinne. Er interessiert sich tatsächlich für die Bands, die er einlädt, er stellt keine Standardfragen, und er hat sich auch mit seinen 58 Jahren eine kindliche Begeisterung erhalten - allesamt weitestgehend verloren gegangene Qualitäten in unseren Selbstdarstellerzeiten. Der beste Beweis, dass auch Musikfans diese Haltung zu schätzen wissen, liefert Cokes selbst, wenn er den Zuspruch für seine Revue in einem Satz beschreibt: "Zunächst kamen 80 Leute, heute führt die Warteschlange einmal ums Theater."
