Text: Jakob Schrenk /Fotos: Basti Arlt
Die Zukunft ist hellgrün und hat minus sechzehn Grad Celsius, damit sie sich ein wenig hält in der Wärme der italienischen Frühlingssonne. Giftig ist die sahnige Masse nicht, aber Hajer Mahmoud zögert trotzdem, davon zu kosten. Hajer, vor 31 Jahren in Tunis geboren, ist eine dieser Frauen, bei denen jeder Make-up-Strich und jede Locke am richtigen Platz sitzen. Als Stewardess lässt sie sich durch Luftlöcher und Turbulenzen in 10 000 Meter Höhe nicht aus der Ruhe bringen. Aber nun ist Hajer nervös, sie zieht ihren pakistanischen Arbeitskollegen Mubashar Chaudhry am Bändel seiner Schürze und fragt: »Was mache ich, wenn es mir nicht schmeckt? Was mache ich dann in meinem Leben?« Mubashar, 33 Jahre alt, lächelt, er weiß, dass Worte jetzt nicht helfen. Deswegen nimmt er Hajer fest am Unterarm und führt ihre Hand zu dem Becher mit Pistazieneis, der vor den beiden auf dem Tisch steht. Das erste Eis, das Hajer in ihrem Leben gemacht hat. Gehorsam taucht Hajer einen Plastiklöffel in den Becher und führt ihn zum Mund, schließt die Augen, legt die freie Hand gegen das linke Ohr, ganz so, als wolle sie alle überflüssigen Sinnesorgane abschalten und die ganze Kopfkraft auf die Geschmacksknospen auf ihrer Zunge leiten. Hajer lässt das Eis langsam im Mund schmelzen und lässt sich Zeit. Dann öffnet sie die Augen und sagt: »Wow!«
Hajer nimmt noch einen Löffel Eis. Und einen dritten. Das Pistazieneis beruhigt ihre Zweifel. Hajer ist nun sicher, dass es richtig war, sich hier in Bologna an der »Gelato University« einzuschreiben. In sechs Monaten wird sie den Beruf als Stewardess aufgeben. Dann will Hajer eine Eisdiele in Tunis eröffnen, der Stadt, in der sich die Menschen, wie Hajer glaubt, nicht nur nach Demokratie und Meinungsfreiheit sehnen, sondern auch nach einer weiteren Erfindung des Westens, dem Gelato.

Reihum bietet Hajer auch den anderen Eisstudenten ihr Pistaziengelato an, jedem schaut sie direkt ins Gesicht, während er probiert, damit ihr auch keine Gefühlsregung entgeht. Der Schulungsraum ist erfüllt vom Duft von Nüssen und Vanille, großen Erwartungen und leisem Schmatzen. 23 Schüler haben dieses Mal den Wochenkurs »Gelato Week Base« belegt und 800 Euro dafür bezahlt. 9000 Studenten besuchen jedes Jahr die Gelato University in Bologna oder ihre Auslandsniederlassungen in China oder den USA. Deutsche Unternehmensberater in der Midlifecrisis lernen hier genauso wie iranische Flüchtlinge. Der Traum von der eigenen Gelateria ist eine globale Aufund Ausstiegsfantasie.
Die Gelato University heißt so, obwohl sie keine Universität, sondern nur ein Schulungszentrum ist. Aber wichtiger ist ohnehin der erste Teil des Namens, der belegt, dass es hier um echtes italienisches »Gelato« geht und nicht um banale »Icecream«. Betreiber der Gelato University ist die Firma Carpigiani, der weltweite Marktführer in der Produktion von Eismaschinen. Die Manager hoffen, dass die Studenten am Ende ihrer Ausbildung die Schockfroster und Eismaschinen des Hauses Carpigiani kaufen. 2003 wurde die Eisuniversität in Bologna gegründet, die Stadt ist der perfekte Ort, um Menschen aus aller Welt die Kunst des Eismachens zu lehren. 300 Gelaterias gibt es in der Stadt, bezogen auf die Einwohnerzahl ist das italienischer Rekord, zumindest behaupten das die Menschen, die hier wohnen. In Bologna wurden wohl die Tortellini erfunden und natürlich das »Ragù alle Bolognese«. »La Grassa «, »die Fette«, nennen die Bürger ihre Stadt, um acht Uhr warten sie in Schlangen vor ei- nem der ausreservierten Restaurants. Und wie im schwülen Traum eines Postkartenfotografen reflektieren die roten Ziegelhäuser die Abendsonne, und das warme Licht lässt die Männer im weißen Hemd und die Mähnenfrauen noch schöner aussehen, als sie ohnehin schon sind.
Diese Idylle bekommen die Schüler der Gelato University aber nur bei einer Führung durch die besten Eisdielen zu Gesicht. Die Eisuniversität befindet sich achtzehn Kilometer vom Zentrum entfernt in einem Industriegebiet, aus dem bis auf ein blasses Grau alle Farben entfernt wurden. Das macht den Standort zu einem Sinnbild: Es geht hier nicht nur um Genuss, es geht auch um Fleiß, um die Berechnung der Gewinnmargen und des Süßegrads von Zitronen.
Luciano Ferrari, Eismaestro und Lehrer an der Gelato University, erinnert seine Schüler an jedem Morgen daran, wie hart der Tag heute wird: »Ihr werdet sehen, ich bin schwer zu ertragen «, sagt er zu ihnen und lächelt. Ferrari, 52, ist nicht nur ein Italiener, sondern auch ein Italienerdarsteller. Sein Buch »Gelato and Gourmet Frozen Desserts« hat Ferrari seiner Mutter gewidmet, die grauen Haare kämmt er in jeder Zigarettenpause nach, seine Gesten sind so ausladend und elegant, als wäre er beim Amt für südeuropäischen Gebärdenschutz angestellt. Ferrari spricht auch dann weiter, wenn er unter einem Tisch herumkriecht, um den heruntergefallenen Textmarker zu suchen.
Als Ferrari den Stift gefunden hat, schreibt er die Wörter »Taste«, »Texture« und »Structure« an das Flipchart und malt ein Ausrufezeichen daneben. Ferrari, der gern zwinkert und lächelt, sieht mit einem Mal sehr ernst aus: »Der Unterschied zwischen Gelato und industrieller Icecream ist sehr groß«, erklärt er: »Gelato schmeckt so fruchtig und intensiv, wie es nur möglich ist, wir stellen es jeden Tag neu her und verwenden nur beste Zutaten. Nicht irgendwelche Zitronen, sondern die süßen von der Amalfiküste.« Icecream, etwa von Häagen Dazs, besteht aus mehr Fett und weniger Zucker als Gelato; weil Zucker als Weichmacher dient, ist Icecream härter als Gelato und enthält größere Eiskristalle. Irgendwo zwischen Icecream und Gelato liegt übrigens das Eis, das in Deutschland in Eisdielen verkauft wird: »Es muss sehr hart sein, damit es mit einem Kugelmacher in die Waffel befördert werden kann. Wir Italiener verwenden einen Spachtel, aber die Deutschen lieben Kugeln, sie brauchen die Ordnung.« Ferrari macht eine seiner seltenen Pausen, um dem, was jetzt kommt, mehr Bedeutung zu verleihen, es ist sein ganz persönlicher Kalter Krieg. Handwerk gegen Massenproduktion, Tradition gegen Moderne. »Icecream müssen Sie zerbeißen«, ruft Ferrari, »bei Gelato sind die Eiskristalle ganz fein. Gelato schmilzt im Mund. Gelato überwältigt, weil man eben nichts tun muss, als wenn einen ganz überraschend eine wunderschöne Frau küsst.«
Sommerschule
Kompaktes Wissen für alle, die keine Zeit oder kein Geld haben, um einen Kurs an der Gelato University zu buchen.
THEORIE: EISWISSENSCHAFT
Milcheis besteht aus Sahne, Milch, Zucker und, etwa im Fall von Schokoladeneis, aus Kakaopulver. Milch und Sahne liefern die nötige Flüssigkeit, sorgen für einen festen Biss und stellen das Fett bereit, das als Geschmacksträger wichtig ist. Beim Fruchtsorbet werden Sahne und Milch durch Wasser ersetzt. Sowohl beim Milcheis als auch beim Sorbet sorgt der Zucker nicht nur für die Süße, sondern auch dafür, dass das Gelato cremig und geschmeidig bleibt. In der Eismaschine wird das Eis bei Minustemperaturen gerührt, dadurch nimmt das Eis Luftbläschen auf und bekommt eine lockere Struktur. Weil der Rotor der Eismaschine die Kristallklumpen permanent zerschlägt, sind diese später im Mund nicht spürbar.
PRAXIS: DAS PERFEKTE SORBET
Luciano Ferrari empfiehlt ein Erdbeer-Balsamico-Sorbet: 250 Gramm frische Erdbeeren mit 200 Gramm Zucker, 200 Millilitern Wasser und dem Saft einer halben Zitrone in einem Gefrierbehälter mit dem Pürierstab verrühren, bis sich der Zucker ganz auflöst und eine homogene Masse entsteht. In das Gefrierfach stellen. Nach einer halben Stunde mit einer Gabel das Eis zerschlagen. Wieder für eine halbe Stunde kaltstellen, dann wieder umrühren. Diese beiden Schritte noch etwa vier bis sechs Mal wiederholen, bis das Eis die gewünschte Konsistenz hat. Jetzt 200 Gramm guten Balsamico und fünfzig Gramm Zucker in einer Pfanne auf die Hälfte einkochen lassen. Zusammen mit dem Erdbeersorbet servieren.
Hajer Mahmoud hört aufmerksam zu. Das linke Bein hat sie über das rechte geschlagen und die Fußspitzen angezogen. Diese Position hält sie stundenlang, wie ein Denkmal, das an die Bedeutung von Ehrgeiz und Strebsamkeit gemahnt. Die Schüler protokollieren jede Grammangabe von Ferrari mit und stöhnen auf, wenn er etwas Zucker neben den Becher schüttet. Als sie nach vier Theoriestunden am Vormittag selbst an die Maschinen dürfen, ziehen sie sich im Laufen ihre weißen Kittel, Schürzen und Mützen und die blauen Latexhandschuhe an. So ähneln sie hochmotivierten Zwergen, während sie am übergroßen Stabmixer Bananen pürieren, aus Eimern Milch und Zucker hinzugeben und die fertige Masse in die Eismaschine schütten. Die retrofuturistischen Eismaschinen brummen, fünfzehn Minuten später blinken alle Lämpchen, langsam spucken die Apparate die Eismasse aus, die Studenten applaudieren.
Etwa 80 000 Euro kostet es, alle empfohlenen Maschinen bei Carpigiani zu kaufen. Aber als Ferrari für eine Pause von »fünf italienischen Minuten« verschwindet und nach einer Viertelstunde noch nicht zurückgekommen ist, flüstert Mubashar Chaudhry, dass chinesische Automaten schon ab 4000 Euro zu haben seien. In einer Broschüre von Carpigiani hat er den Satz unterstrichen, dass sich in Italien ein Kilo Speiseeis für 14,50 Euro verkaufen lasse, die Materialkosten aber nur bei 2,11 Euro lägen, was eine Gewinnmarge von 75 Prozent ergebe. »Der Gewinn ist höher als in einem Restaurant, die Anfangsinvestition ist niedrig, die Miete für den kleinen Raum auch«, sagt Mubashar. Um eine Gelateria zu eröffnen, müsse man kein Starkoch sein und auch kein Vermögen geerbt haben, harte Arbeit von acht Uhr morgens (Eis machen) bis zwei Uhr nachts (Verkauf an Nachtschwärmer) genüge. In der Eisvitrine wird auch das kapitalistische Versprechen konserviert, dass jeder, der will, sein Glück machen kann.
Vor sechs Jahren ist Mubashar von Pakistan nach Schweden gekommen. Bisher schlägt er sich als Taxifahrer durch, hin und wieder kauft und verkauft er auch einen Gebrauchtwagen, seine Eisdiele in Malmö soll einen antiken Namen haben, »Caesar« oder »Nero«. Elisabeth Bestenheider ist mit ihrem SUV aus Crans- Montana, Schweiz, nach Bologna gereist. Ihr genügt es nicht mehr, nur im Zahntechnikbetrieb ihres Mannes auszuhelfen. Mohammed Ali Aryaie stammt aus dem Iran, derzeit besucht er eine Hotelschule in der Schweiz, und sobald er diesen Kurs absolviert hat, will er den Gästen seines Restaurants in der westindischen Millionenstadt Pune italienisches Eis servieren. Wenn sich die politische Situation im Iran beruhigt hat, wird Mohammed in den Iran zurückgehen, um dort eine Eisdiele zu eröffnen. Nationalstaatsgrenzen scheinen den Schülern der Gelato University genauso fremd zu sein wie Sprachbarrieren und wirtschaftlicher Pessimismus.

Hajer hat als Stewardess die Welt umrundet, aber irgendwann ertrug sie die Einsamkeit in einem namenlosen Hotel in Auckland, ihr künstliches Lächeln und die dämliche Atemmaskenpantomime nicht mehr: »Ich wollte eine Heimat«, sagt Hajer, »und ich wollte wirkliche Freude. Ich habe Eisdielen auf der ganzen Welt gesehen, und nirgends war auch nur ein einziger trauriger oder wütender Mensch.« Im 21. Jahrhundert haben sich neben der Produktion und Distribution von Schweinehälften und Hochleistungsprozessoren auch die Träume der Menschen globalisiert. Jeder Eismacher verkauft auch die süße Erinnerung an den Tag, an dem Mama einem das erste Eis in die Hand drückte. Eine Gelateria in Tunis, Malmö oder Duisburg gehört zwar nicht zum geografischen, aber zum emotionalen Italien, wo die Sonne immer scheint und die Menschen nie arbeiten, weil sie sonst nicht genug Zeit hätten, um Pasta, Pizza und Orangen- Fenchel-Gelato zu verspeisen.
Luciano Ferrari gibt sich große Mühe, diese Klischeerealität angemessen zu repräsentieren. Die Eisdiele, die er vor 33 Jahren in Modena gründete, nannte er »La Dolce Vita«. Als sich seine Schülerin Mayte Torrente tief zu der Eismaschine herunterbeugt, betrachtet Ferrari demonstrativ lange ihren Hintern. Nach einem guten Restaurant gefragt, gibt er neun verschiedene Tipps. Es mag schon sein, dass die Deutschen gute Autos zusammenschrauben und bald jeder Inder eine Softwarefirma gegründet hat. Die Vorfahren von Luciano Ferrari aber haben der Welt den Wein geschenkt, die Spaghetti und eben auch das Eis. Der römische Kaiser Nero ließ vor 2000 Jahren von Schnellläufern Schnee aus den Albaner Bergen bringen, den er mit Honig und Rosenwasser süßte. Luciano Ferrari tippt sich mit dem Daumen gegen die Brust: »Die Römer hatten genug Geld und Zeit, um ihre Genüsse immer weiter zu verfeinern. Deswegen haben wir Italiener so eine gute Küche.«
Aber jetzt verdienen die Amerikaner von Starbucks Milliarden damit, Espresso, Cappuccino und Latte macchiato zu verkaufen. Ferrari hat festgestellt, dass der Espresso in Polen oft besser schmeckt als in Italien. In der Eisbranche kommen die vier Marktführer Nestlé (Schöller, Mövenpick), Unilever (Langnese), R + R Icecream und Rosen Eiskrem aus der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland. Letztes Jahr waren die Italiener bei den Kursen der Gelato University erstmals in der Minderheit. Manchmal fürchtet Ferrari sich vor dem Untergang des Kulinarischen Römischen Reiches: »Was ist aus unserem Land geworden, der Politik, der Wirtschaft? Wir Italiener sind leider zu bequem.«
Am Abend beobachtet Luciano Ferrari, wie sich Hajer und Mubashar Chaudhry im Labor herumdrücken, während die anderen schon draußen auf den Bus zurück ins Hotel warten. Die beiden probieren noch einmal alle zwölf Eissorten durch, die der Kurs heute gemacht hat. »Schauen Sie sich die Energie an«, sagt Ferrari: »Diese Leute sind eines Tages die besseren Italiener.«