Drei Dinge habe ich auf dieser Reise gelernt. Erstens: Man kann Sachen schaffen, die man eine Stunde zuvor noch für unmöglich gehalten hat. Zweitens: Man kann auf nichts (wirklich nichts!) stehen. Drittens: Manchmal ist es leichter, einen Elefanten zu besteigen als ein Stück Käse.
Ich war losgezogen, um Bouldern zu lernen, die spielerische Form des Kletterns, bei der Menschen wie Geckos an Felsblöcken kleben – ohne Seil und Sicherung, ohne Karabiner und Klettergurt. Ich hatte mich vor dieser Reise schon einmal daran versucht, aber nach zwei frustrierenden Stunden in einer Boulderhalle aufgegeben.
So eine Halle ist leicht zu finden: In vielen deutschen Städten wurden in den letzten Jahren neue Kletter- und Boulderhallen gebaut. Allein in Köln gibt es inzwischen sechs. Denn was früher nur eine Aufwärmübung für Sportkletterer war, verzeichnet heute ähnliche Popularitätsgewinne wie Bubble Tea. Die »Boulderwelt« in München, die angeblich größte Boulderhalle der Welt, ist fast jeden Abend so voll, dass man vor den Wänden anstehen muss. Warum? Ich wollte es rausfinden – dort, wo der Sport seinen Ursprung hat: in Fontainebleau, sechzig Kilometer südlich von Paris.
Im Gepäck: ein dickes Buch, in dem sich seltsame Zahlen-Buchstaben-Kombinationen aneinanderreihen. 1: 5c, 1b: 5c, 2: 4c, 3b: 5b. Aus dem Buch erfahre ich, dass sich im »Wald der Wälder«, wie ihn die Boulderer ehrfurchtsvoll nennen, abertausende Sandsteinblöcke auf 250 Quadratkilometer verteilen. Bislang war ich von einem überschaubaren Wald ausgegangen.
Wo also beginnen? Zum Glück schlafen Kathrin, die Fotografin, und ich nicht im Hotel, sondern auf einem Campingplatz in Grez-sur-Loing. Die vielen Crashpads vor den Zelten verraten: Wir sind nicht die einzigen Boulderer hier. Unter anderem die Erfindung dieser Sturzpolster war es, die Mitte der Neunzigerjahre aus dem Nischen- einen Trendsport machte: Wenn man fällt, fällt man weich. Verletzungen sind eher selten. Und anders als beim Klettern braucht man beim Bouldern weder Berge noch viel Ausrüstung noch Kletterpartner. Vor allem 15- bis 40-Jährige verfallen dem Bouldern in Massen. In den vergangenen zehn Jahren zählte allein der Campingplatz in Grez-sur-Loing fünfzehn Prozent mehr Gäste – pro Jahr. Wer einmal vom Bleau-Fieber infiziert ist, kehrt immer wieder zurück.
Andreas, 38, aus Trier kommt schon seit fünfzehn Jahren. Mit einer Gruppe vom Deutschen Alpenverein sitzt er ums Lagerfeuer. Schlank, durchtrainiert, entspannt, Mütze: ein typischer Boulderer. Auf einer Karte zeigt er mir die bekanntesten Felsgebiete: »l’Eléphant«, »La Dame Jouanne«, oder »Le Cul de Chien«, den Hundepo.
Den Parkplatz finden wir am nächsten Morgen mit einiger Mühe – aber wo sollen zwischen all den Birken, Kiefern, Eichen, Buchen und Farnen die Kletterfelsen sein? Robert, 33, und Christopher, 28, beide aus Köln, nehmen uns mit. Nach etwa zehn Minuten weicht der Waldboden unter unseren Füßen feinstem Sand. Fünfzig Meter weiter stehen wir auf einer riesigen Lichtung. Ein Strand mitten im Wald! Nur das Meer fehlt, das hier früher einmal war und die Felsen und den Sand zurückgelassen hat.
Von unten sehen die Felsen aus, als hätte ein Riese seinen Playmobilzoo aufgebaut. Drei, vier, fünf Meter große Wale, Elefanten, Delfine, Katzen. Alle warten darauf, bezwungen zu werden. Bei genauem Hinsehen entdecke ich auf den Felsen Nummern mit Pfeilen. Bereits 1947 wurden in Bleau die ersten Boulderparcours mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden angelegt. Gebirgsjäger hatten die Felsen in Fontainebleau zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Trainingsplatz für sich entdeckt. Später folgten die Sportkletterer. Fein säuberlich werden die Zahlen seitdem immer wieder nachgepinselt.
Ich bin auf der Suche nach einer gelben Nummer, denn, so viel habe ich inzwischen gelernt, gelb sind die leichtesten Routen. Jede Schwierigkeitsstufe ist noch mal unterteilt in a, b und c. Jetzt ergeben auch die Formeln aus meinem Boulderführer Sinn. 1: 5c heißt übersetzt: Route 1 hat die Schwierigkeit 5c. Viel zu schwer für mich! Ich hatte Andreas am Lagerfeuer gefragt, welchen Schwierigkeitsgrad ich wohl nach drei Trainingstagen erreichen könnte. Seine Antwort: »Eine Vier wäre super.«
Ich lege mein Crashpad unter eine 2a, ziehe meine Kletterschuhe an und befreie sie von Dreck und Sand. Noch ein bisschen Magnesium für die Hände, damit sie nicht so rutschig sind, und los geht’s. Die ersten zwei Züge sind kein Problem, aber dann, als ich schon über die Kante des zweieinhalb Meter hohen Fels schauen kann, ist weit und breit kein Griff mehr in Sicht. Ich versuche, mich mit dem Kinn nach oben zu ziehen. Elegant sieht anders aus. Egal, ich freue mich wie ein Kind, als ich wenig später oben stehe. Überhaupt scheinen die Felsen hier kindliche Triebe zu aktivieren. Der Drang, überall hochzuklettern, ist plötzlich wieder da.
Am Nachmittag wage ich mich in die nächste Kategorie vor: orange. Als ich nach dem sechsten erfolglosen Versuch eine Pause einlege, turnt ein Engländer mit Gipsarm (vom Mountainbiken) die drei Meter hohe Wand hinauf. Ja, man hatte mich vorgewarnt: Bleau könne für Anfänger frustrierend sein, weil die Griffe kleiner als in der Halle sind. Aber SO demütigend hatte ich mir das Ganze nicht vorgestellt. Überhaupt: Was hier als »Griff« gilt, ist oft lächerlich. Ebenso gut könnte man einen Spinnenfaden als Seil bezeichnen. Gleiches gilt für die Tritte. Sagt Robert zu mir: »Hier ist ein guter Tritt«, heißt das übersetzt: »Hier ist ein Zweimillimetervorsprung. Setz deinen Fuß da hin und stell dich drauf.« Als ich Robert fragend anschaue, nickt er mir zu. »Das hält.« Natürlich hält es nicht.
Nebenan höre ich Jubelschreie. Nach einer Woche und unzähligen Versuchen hat Roberts Freund Christopher den »Flipper« bezwungen. Eine 6b! »Ich hab den Fels einfach nicht mehr aus dem Kopf gekriegt«, sagt Christopher noch völlig außer Atem. Er sieht aus, als hätte er gerade den Gipfel eines Achttausenders erreicht: erschöpft, aber überglücklich. Als er danach mit Robert vor dem Fels steht und erklärt, wie er den Flipper doch noch bezwungen hat (»Hier muss man pressen, da stemmen, hier Übergriff, da Untergriff, hier den linken Fuß eindrehen«), bekomme ich eine Ahnung davon, was den Sport ausmacht. Wie zwei Schachspieler stehen die beiden vor dem Flipper-Problem. Erst durch die geschickte Kombination komplexer Kletterzüge lässt sich die zunächst unlösbar erscheinende Aufgabe irgendwann doch bewältigen. Kraft allein reicht da nicht. Vor der Erstbegehung des wohl bekanntesten Boulderproblems der Welt, »Midnight-Lightning«, studierten Ron Kauk und John Bachar monatelang die vier Meter hohe Wand mit Überhang auf einem Campingplatz im Yosemitetal, Kalifornien. Denn anders als beim klassischen Klettern geht es beim Bouldern nicht um Schneller, Höher und Noch-mehr-Seillängen. Vielmehr ist jeder einzelne Zug eine Herausforderung. Bouldern ist sozusagen das Konzentrat des Kletterns, die reinste Form des Felsenbezwingens. Trotzdem: Mich hat das Bleau-Fieber noch nicht gepackt.
Am zweiten Tag nehme ich mir einen Lehrer. Eigentlich habe ich ja schon ständig welche, weil oft so viele Boulderer zuschauen und Tipps geben, dass man zehn Lehrer gleichzeitig hat. Bouldern ist viel kommunikativer als Klettern. Oft stehen ganze Gruppen vor einem Boulderproblem und tüfteln gemeinsam an der Lösung, feuern sich an oder messen ihre Kräfte – so wie Robert und Christopher. Allerdings sind nicht immer alle einer Meinung. Der häufigste Tipp : »L’escalade en bloc? Ca s’apprend comme ça!« (»Bouldern? Das lernt man einfach so!«) hilft mir nicht viel. Und vor allem zwingt mich keiner, weiterzumachen.
Mein Lehrer ist 41 Jahre alt und sieht aus wie Pumuckl: klein, dünn und rothaarig. Arnaud Ceintre ist einer der wenigen, die schon den höchsten Bleau-Grad, eine 8c, geschafft haben. Früher ist er auf Weltmeisterschaften geklettert, jetzt arbeitet er in einer Kletterhalle in Paris. In seiner Freizeit eröffnet er neue Routen in Bleau. Mit einer Metallbürste befreit er »schöne Felsen« von Moos und Farn. Manchmal braucht er einen ganzen Tag.
Wir beginnen mit dem Elefanten. Arnaud rückt ihm mit einem Tuch und einer Art Zahnbürste zu Leibe und putzt den Fels mit der Hingabe eines schwäbischen Porschefahrers. Jedes Sandkorn muss weichen. »Damit man besser greifen kann«, erklärt Arnaud. »Außerdem wirkt Sand, wenn man drauftritt, wie Schmirgelpapier. Er frisst den Felsen auf.« Tatsächlich sind einige Blöcke an manchen Stellen ganz schön speckig. Nachdem der Elefant sauber ist, putzt sich Arnaud die Schuhe an einem kleinen Teppich ab. Er klettert vor, ich hinterher. Wenig später sitze ich auf dem Rücken des Elefanten. Geschafft!
Am Mittag glaube ich, erste Lernerfolge zu erkennen. Kleine Schritte machen, Arme lang lassen, nicht an den Armen hochziehen, sondern über die Füße hochstemmen (wie Treppen steigen), nicht die Knie mitbenutzen, Gewicht verlagern, um neue Griffe zu erreichen. Und: Auf die Reibung vertrauen! (Also auf den Zweimillimetertritten stehen, was allerdings noch gar nicht funktioniert.) Langsam schwindet mein Anfängerfrust.
Doch dann kommt der Käse. Der Fels ist mit vielen Löchern durchsetzt und steht einsam mitten im Wald. Er ist etwa sieben Meter hoch und ein wenig dem Boulderer entgegengeneigt, ein sogenannter High-Boulder. Die normale Boulderhöhe in der Halle endet bei 4,50 Metern. »Ist gar nicht schwer«, sagt Arnaud, und ehe ich es mich versehe, ist er auch schon oben. Ich schaffe nicht mal den ersten Zug. Erst als Arnaud zwei Bouldermatten übereinanderlegt, gelingt mir der Einstieg. Kathrin, die Fotografin, hängt über mir am Seil, Arnaud steht unter mir, beide feuern mich an: »Auf! Rechte Hand einen Zentimeter weiter rechts! Und über das linke Bein hochstemmen. Ja, toll!« Gar nichts ist toll. Meine Arme zittern, ich schwitze vor Angst und Anstrengung. Dass Arnaud mir die Hände entgegenstreckt, um mich zu »spotten«, also bei einem Sturz aufzufangen, trägt keineswegs zu meiner Beruhigung bei. Von hier oben sieht er winzig aus. Wie er es zum nächsten Griff geschafft hat, ist mir schleierhaft. Arnaud ist zwölf Zentimeter kleiner als ich. Ich strecke mich und spüre, wie die Energie aus meinen Muskeln weicht. Mit letzter Kraft versuche ich, den nächsten Griff zu erreichen – und falle, drei Meter tief, halb auf Arnaud, halb auf die Matte.
Verletzt bin ich nicht, aber meine Unterarme sind hart wie der Fels, an dem ich gerade noch hing. Am Abend spüre ich jede einzelne Faser, nein, jede Zelle meines Körpers. Ich schaffe es nicht einmal mehr, den Drehverschluss meiner Bierflasche zu öffnen, die Tür des VW-Busses zuzuschieben oder, am nächsten Morgen, die Tür der Bäckerei zu öffnen. In der Nacht habe ich vom Felskäse geträumt. Ob das erste Symptome des Bleau-Fiebers sind? Der Ehrgeiz hat mich auf jeden Fall gepackt. Anders als beim Laufen oder Schwimmen hat man das Ziel beim Bouldern ständig so unmittelbar vor Augen, dass das Scheitern besonders wehtut.
Auch am dritten Tag stehe ich deshalb wieder am Fels. Arnaud hatte mir gesagt, ich dürfe nicht fahren, ohne Jo Montchaussé zu treffen. Der 68-Jährige ist so etwas wie der König von Fontainebleau. Seit mehr als dreißig Jahren turnt er fast täglich durch den Wald. Als wir uns in »Bois Rond« treffen, wo außer mir nur echte Bleausards an den Felsen hängen, weht ein kalter Wind, das Thermometer zeigt zwölf Grad. »Das perfekte Wetter zum Bouldern«, sagt Jo. »Wenn es zu warm ist, schwitzen die Finger zu sehr.« Dann zeigt er mir eine seiner Lieblingsrouten, eine blaue Horizontale. Meine Finger sind eiskalt, mir tut alles weh, aber ich will mich nicht blamieren. Nicht vor dem König. Doch ich falle und falle und falle. Und dann, plötzlich, beim fünften Versuch, löst sich der Knoten. Ich schaffe eine 4b! Ich bin überglücklich – als hätte ich gerade einen Achttausender bezwungen. Ich habe mich durchgebissen, durchgekämpft, den Schmerzen widerstanden. Ich habe gemeistert, woran ich vor zwei Tagen noch kläglich gescheitert wäre. Ich fühle mich stark. Ich glaube, ich bin infiziert.