Zuhause Über alle Berge

Zuhause: Über alle Berge
Wer sich in Italien wie ein Italiener fühlen will, muss Vespa fahren. Unsere Autorin hat einfach ihre eigene genommen – und ist damit über den Brenner nach Venedig gefahren.

Text: Annabel Dillig / Fotos: Simon Koy

Als die Bremsen zu stinken beginnen, werde ich nervös. Sechzehn Prozent Gefälle, drei Kilometer lang. Der Zirler Berg, die Abfahrt nach Innsbruck, ist so steil, dass rechts von der Fahrbahn Ausweichrampen für Lkw in den Berg gebaut wurden. Sie sind voller Reifenspuren. Es riecht verbrannt. Vor und hinter mir donnern die Laster den Berg hinab. Wie lange kann ich so weiterfahren? Können Bremsen verglühen? Durchschmoren? Bremszüge reißen? Keine Ahnung! Mit der Vespa nach Italien. Absurde Idee. Der Münchner Sommer war komplett verregnet, und so war ich einfach losgefahren. Auf der Autobahn in vier Stunden nach Italien brettern, das kann jeder. Aber schafft man es auch mit einem 50-Kubik-Roller über die Alpen? Vor kurzem habe ich eine gebrauchte Vespa LX 50 gekauft, das perfekte Sommergefährt, mein Express in die Freiheit. Im Rucksack: zwei Hosen, drei T-Shirts, Flipflops, Bikini, Badetuch, Buch. Nächste Ausfahrt: Sommer.

Dabei hatte mir Motorradfahren immer Angst gemacht. Von befreundeten Ärzten weiß ich, dass sie von »Erntezeit« sprechen, wenn im Frühjahr die Unfallzahlen steigen und sie dankbar sind, die Organe von Motorradfahrern verantwortungsvolleren Menschen einpflanzen zu können. Knapp achtzig Kilometer von München entfernt, am Kesselberg, der berüchtigten bayerischen Bikerstrecke, erhielt ich dann den ersten Beweis für den Motorradirrsinn. Auf einem Parkplatz lernte ich Dennis kennen, sein Motorrad sah aus wie das Dienstfahrzeug von Batman. Den Führerschein hatte er gerade zwei Wochen. »Meine Mutter schläft zurzeit nicht so gut«, sagte er und lachte.

Es war laut wie am Nürburgring, dauernd rasten Biker an uns vorbei. »Den habe ich schon vier Mal gesehen, der fährt immer nur den Berg rauf und runter«, schrie Dennis und deutete auf einen rot-weißen Blitz. Gegen die dick bereiften PS-Monster schien mir mein Retrogefährt ein kalkulierbares Risiko zu sein. Keine Kurvenlage. Höchstgeschwindigkeit fünfzig. Rührende vier PS. Den Zirler Berg kannte ich noch nicht. Aber die Bremsen überstehen die Abfahrt – und meine Nerven tun es auch. Ein letzter Blick auf das in der Spätnachmittagssonne leuchtende Innsbruck, dann fahre ich auf der alten Passstraße in Richtung Brenner, diesen Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Der Satz »Wann sind wir endlich am Brenner?« bildete den Refrain eines jeden Urlaubs. Mama fragte Papa. Ich und mein Bruder taten es ihr, unser Mau-Mau-Spiel unterbrechend, nach. Dabei wussten wir gar nicht, wer oder was dieser Brenner eigentlich war. Mal bezeichnete Papa so die Autobahn zwischen Innsbruck und Sterzing, mal die Ortschaft Brenner, mal die Mautstation, an der es immer Stau gab. Dieser Brenner war einfach nicht zu fassen. Aber irgendwann verstanden wir, dass die kalte, unwirtliche Brenner-Gegend bedeutete, das Tor zu einer besseren Welt zu passieren. Danach fing Italien an. Und damit auch: jeden Tag drei Kugeln Eis. Den Pizzeria-Flipper mit 200-Lire-Münzen füttern. Seeigel am Strand sezieren. Lange aufbleiben.

Eine Reise zurück in die Kindheit. Und in die Heimat der Vespa, jenes Kulturguts auf zwei Rädern, das der Flugzeugbauer Piaggio 1945 entwickelte, weil die Welt kein Kriegsgerät mehr brauchte, wohl aber leichte, günstige Motorräder. »Absolut ideal für Frauen und Priester«, hieß es damals. Die züchtige Sitzweise war nur möglich, weil der Motor revolutionär am Hinterrad untergebracht war. »Paperino«, Entchen, sollte der Roller ursprünglich heißen, aber als der Firmenchef Enrico Piaggio den Motor des Prototyps brummen hörte, rief er: »Ecco, la vespa!« Er hatte ihn Wespe getauft.

Kurvenreich führt die Brennerstraße von Innsbruck durchs Wipptal auf knapp 1400 Meter. Mit dem Roller darf ich nicht auf der Autobahn fahren, sondern nur auf ihrem Vorgänger, der alten Passstraße. Etliche Motorradfahrer überholen mich, rasen in Haarnadelkurven hinein, ihre Knie berühren fast den Boden. Wie irre, wie unentspannt, denke ich und gebe Gas bei Tempo 35. Als ich in München losfuhr, herrschten fünfzehn Grad, hier in den Bergen sind es unter zehn, der Fahrtwind ist eisig. Ich trage Windjacke und Handschuhe – und friere, als wäre ich in der Arktis. In Steinach halte ich an einer Tankstelle, um mich mit einem Tee aufzuwärmen. An einem Bistrotisch trinken zwei Bestatter ihr Feierabendbier. Der eine trägt ein weißes Hemd mit der Aufschrift des Bestattungsunternehmens, der andere ein graues. »Begräbnis und Sterbefall«, erklären die Herren ihre Arbeitskleidung.

Zuhause: Über alle Berge

Ich erzähle ihnen von den Überholmanövern der Motorradfahrer und dass ich jedes Mal denke, hinter der Kurve ein zerstörtes Motorrad und einen toten Fahrer zu finden, aber sie wiegeln ab. »Seit die Polizei hier stärker kontrolliert, sterben nicht mehr so viele. Glauben Sie uns, wir kennen uns aus.« Draußen stehen vier Tuningjugendliche um ein Auto, auf das so viele Aufkleber gepappt sind, dass man die Farbe des Lacks nicht mehr erkennt.
Ein mehrfach Gepiercter versucht gerade, ein Fuchsfell auf dem Dach anzubringen. »Wos mocht’n da Kevin do?«, wundern sich die Bestatter. Als ich ins Freie gehe, fragt dieser Kevin in die Runde, ob Sekundenkleber ausreichend »hebt« oder Zweikomponentenkleber besser wäre. »Wo hast du den Fuchs her?«, frage ich. »Gestern überfahren.« Alle lachen. Ich glaube, es ist ein Witz. »Und du bist mit der Vespa unterwegs?«, will einer wissen. Ich nicke. »Ich fahre nach Venedig.« Alle lachen. Sie glauben, es ist ein Witz.

Als ich einige Ortschaften später in dem Dorf Brenner ankomme, halten vier Motorradfahrer anerkennend den Daumen hoch. Ob es wohl die sind, die mich vorhin so riskant überholt haben? »Schönes Moped«, sagt einer. Für sie bin ich wie Eddie the Eagle, der Skisprungclown aus den Achtzigern, den kein anderer Wettkämpfer ernst genommen hat. Vier PS? Wahrscheinlich hat ihr Reiseföhn mehr Power. Trist und gottverlassen ist es am Brenner. Dort, wo man früher mit einem feierlichen Gefühl die Grenze übertreten hat, steht heute ein Schlecker. Im Abendrot fahre ich hinab nach Sterzing, die erste Gemeinde auf italienischer Seite. Hier werde ich übernachten. Die Luft wird wärmer. Ich bin übern Berg. Der Brenner war ein Klacks für die Vespa, an der steilsten Stelle kam ich immer noch mit Tempo dreißig voran. Und so will ich am nächsten Morgen einen richtigen Pass überqueren, das Penser Joch. Von dort waren die Motorradfahrer am Brenner gekommen, mit leuchtenden Augen erzählten sie von der tollen Aussicht auf 2211 Metern. »Oh, das wird eng«, sagt die Kassiererin an der Tankstelle. Eine halbe Stunde lang geht es von Sterzing bergauf – bis zu zwölf Prozent Steigung. Mein Roller klingt nun nicht mehr wie eine fröhliche Wespe, sondern wie eine beleidigte Hummel. Aber wir schaffen auch diesen Berg. Am Scheitelpunkt stelle ich die Vespa zwischen PS-strotzenden Motorrädern ab und spreche eine Gruppe fränkischer Biker an. Mein erstes Fachgespräch. Der Timo aus Lauf bei Nürnberg erklärt mir, dass ich beim Bergabfahren darauf achten muss, ab und zu Gas zu geben, weil bei einem Zweitakter der Ölfilm im Kolben intakt bleiben muss und der Motor nur beim Gasgeben geschmiert wird. Zum Glück liegt der Zirler Berg schon hinter mir, ich hätte mich nicht getraut, dort auch noch Gas zu geben. Wir erörtern den weiteren Verlauf meiner Reise. Längst geht es mir nicht mehr darum, auf dem schnellsten Weg nach Venedig zu kommen, sondern auf dem schönsten.

Umschmeichelt vom warmen Fahrtwind bei der Abfahrt, wundere ich mich über meinen Sinneswandel. Fand ich Motorradfahrer nicht immer abstoßend? Die martialische Lederkluft, den schweren, o-beinigen Gang? Eine Welt voller Schnurrbärte und burschikoser Frauen. Aber mein Gipfelerlebnis vorhin wollte ich mit den Bikern teilen, nicht mit den Rennradfahrern oder Wanderern, die ebenfalls Rast gemacht haben.

Tipps
An eine Vespa kommen: Leihen ist schwierig, bei Rollerhändlern sind oft nur fünfzig Kilometer pro Tag inklusive – es wird also teuer.
Lieber eine gebrauchte kaufen, aber keine alte 50er mit Gangschaltung, die haben nur knapp zwei PS. Die neuen verfügen über vier PS und kommen (fast) überall hoch. Öl nicht vergessen!
Hinkommen: Der Weg über den Brenner, Brixen und Bozen ist der schnellste. Schöner ist ein Umweg über die Pässe der Dolomiten.
Nicht mehr als 200 Kilometer pro Tag einplanen.
Unterkommen: Sterzing: Hotel Thuiner Waldele, DZ ab 74 Euro. Barbian: Gasthof Zur Traube (spektakulärer Panoramablick über den Ritten), DZ mit HP ab 75 Euro. Corvara: Pension Sellablick, DZ ab 45 Euro.
Auf dem Weg Die Erdpyramiden in Ritten, die Spuren des Gebirgskriegs am Col di Lana, die Eisdiele Grom in Venedig (Campo San Barnaba).
Reiseverlauf Alpenetappe Dieser Weg wird kein leichter sein: fünf Pässe und 590 Kilometer bis Venedig.

Ein seltsamer Wunsch des Menschen, immer in einer Gruppe aufzugehen. Die Straße geht direkt nach Bozen, aber ich will lieber auf schmalen Bergstraßen weiterkurven. Eine Abzweigung führt auf den Ritten. Ein Geheimtipp, meinten die Motorradfahrer. Auf meiner Karte ist sie nur als dünne gelbe Linie eingezeichnet. Die Straße ist dann auch nicht viel breiter als ein Fahrradweg. Ein Schild kündigt sechzehn Prozent Steigung an. Au weia. Die Vespa ist am Limit. 15 Stundenkilometer mit dem Roller fühlen sich an, als würde man gegen eine starke Strömung schwimmen, ganz so, als könnte man den Kampf jederzeit verlieren. Doch die Vespa bezwingt auch den Ritten. Schon seltsam: Wir haben uns so sehr an immer stärkere Motoren und immer mehr PS gewöhnt, dass wir vergessen haben, dass auch vier reichen, um einen Berg hinaufzufahren. Und je langsamer man sich bewegt, desto besser lässt sich die Natur betrachten. Gerade deswegen sticht die Vespa im Quartett der Fortbewegungsmittel Auto, Zug und Rennmotorrad. Das Panorama auf dem Ritten ist so schön, dass mir die Tränen kommen.
Ein Hochplateau mit grünen Wiesen, Bilderbuchdörfern und den verwegenen Zacken der Dolomiten im Hintergrund. Von einer Bäuerin lasse ich mir ihre Hausberge zeigen, den Schlern, den Langkofel und ganz hinten die Marmolata. Wie Magneten ziehen mich diese Berge an. Noch einen Pass will ich heute fahren, das Grödner Joch. Euphorisch pese ich hinunter ins Tal und dann immer höher hinauf, überhole ausgezehrte Rennradfahrer und hupe, um sie anzufeuern. Wäre Italien ein Geräusch, wäre es eine Vespahupe. Erschöpft vom Fahrtwind und verspannt von der lümmeligen Haltung auf der Vespa, erreiche ich am Abend Corvara in den Dolomiten. Mein Integrationsbedürfnis ist ungebrochen, daher wähle ich eine Pension, vor der Dutzende Motorräder stehen. Und wen treffe ich beim Abendessen?

Meine fränkischen Bikerfreunde! Aufgeregt erzählen wir uns von unseren Touren und planen beim Rotwein den nächsten Tag. Ich weiß jetzt, was ich an den Begegnungen in den Alpen so liebe: diesen zärtlichen Umgang mit Straßenkarten, das Aufsagen von Passstraßen, die wie entfernte Königreiche klingen: Fedaia, Campolongo, Sella. Ich höre den Franken zu, wie sie über den Bridgestone S 20 reden (»super Reifen, aber mit dem kannst bloß 5000 Kilometer fahren«) und die Frage diskutieren, ob Leder- oder Goretexkleidung besser ist. Der Gerhard erzählt, dass er nach drei Unfällen aufgegeben hat, seine Tochter zum Motorradfahren zu überreden. »Sie hat ja Recht: Früher oder später schmeißt es jeden.« Alle nicken. Ich auch. Längst sehe ich mich als Bikerin. Auch ohne Motorradführerschein.

Am nächsten Morgen geht es auf direktem Weg Richtung Venedig. Über breite Landstraßen fahre ich durch die Po-Ebene, nicht mehr als Protagonistin der Straße, sondern als blecherne Randfigur, die mit Tempo neunzig überholt wird. In Treviso hat sich die Wespenpopulation verzehnfacht. Ich kurve durch die Altstadt und hupe viel. Un’estate italiana, endlich. Das Meer rieche ich fünf Kilometer, bevor ich es sehe. Zweiradfahrerprivileg. Als Venedig im Abendlicht vor mir liegt, auf der anderen Seite der Brücke, die das Festland mit der Stadt verbindet, schreie ich vor Glück. 590 Kilometer, keine Panne, vier Mal tanken. Benzinkosten: keine dreißig Euro. Ich stelle die Vespa vor den Toren der Stadt ab – in Venedig gibt es nur Bootsverkehr – und bin traurig, dass wir nicht zusammen ins Ziel fahren.

Tags darauf ist meine Venedig-Euphorie verflogen. Schon am Vormittag ist es unerträglich heiß. Von Mückenstichen übersäte Touristen quetschen sich durch die Gassen. Ich besichtige den Markusdom und zünde eine Kerze für den Schutzpatron der Zweiradfahrer an. Den habe ich gerade erfunden. Dann hole ich die Vespa und düse ans Meer. An den Stränden von Jesolo habe ich einst mit meinen Eltern Urlaub gemacht, wie es da heute wohl aussieht? Verrostete Klettergerüste. Verblichene Sonnenschirme. Pizzerien werben mit Preisnachlass für ADAC-Mitglieder. Die ganze Gegend ist eine Aneinanderreihung von Campingplätzen und Kreisverkehren. Egal, Meer ist Meer, denke ich, der Straßenstaub muss endlich von der Haut. In Ca‘ Savio fahre ich die Vespa bis zum Strand und gehe baden. Das Wasser ist tümpelwarm und trüb, überall Algen. Ich hole meine Karte aus dem Rollerfach und sage zur Wespe: Komm, wir fahren nach Rom.