Zuhause Wir Serientäter

Zuhause: Wir Serientäter
Nie waren TV-Serien besser. Nie spielten sie eine wichtigere Rolle im Sozialleben. Um sie genießen zu können, braucht man Netzkompetenz, die richtigen Werkzeuge und eine gewisse Entspanntheit.
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Zuhause: Wir Serientäter

Text: Marco Maurer / Tin Fischer / Lars Weisbrod | Fotos: Michelle Norris | Illustration: Lisa Debacher

Was ist bloß in den vergangenen Jahren passiert? Ein guter Freund erzählt, immer wenn man ihn trifft, diese oder jene neue Serie müsse man sich unbedingt ansehen. Er klingt dabei stets dringlich. Eine Freundin quengelt seit Monaten am Telefon, ob man nun endlich über die zweite Staffel »Borgen« hinausgekommen sei. Sie habe da was zu besprechen. Zeitungen und Blogs beschwören, dass diese oder jene Superserie doch bitte direkt von der Produzentenfeder in unser Hirn fließen solle. Augenscheinlich eilt es auch hier. Zuletzt wurde man an so vielen Bushaltestellen und U-Bahn-Plakatwänden mit »Narcos«, der neuen Netflix-Serie über ein Drogenkartell, oder der neuesten Staffel der Gefängnis-Serie »Orange Is the New Black« konfrontiert, dass man ein schlechtes Gewissen bekam, wenn man nicht sofort nach dem Nachhausekommen TV-Gerät oder PC einschaltete. Sollten wir nicht die Pause-Taste drücken?

Der Erwartungsdruck, jede Serie zu kennen, eine Meinung zu ihr zu entwickeln und sie im Originalton zu verfolgen, ist enorm. Dem sollten wir uns nicht beugen. Das heißt nicht, dass man das Goldene Zeitalter des Fernsehens nicht nach Strich und Festplattenrekorder genießen sollte. Eine Episode von »Game of Thrones« hat ein größeres Budget als vier »Tatort«-Folgen – und das sieht man! Wir fühlen mit den Figuren mit, wissen nicht, ob wir Mister Draper aus »Mad Men« bewundern oder bemitleiden sollen, ärgern uns noch heute über das »Lost«- Finale und fiebern auf David Lynchs Neuentwurf von »Twin Peaks« hin wie auf die nächste Fußball-WM.

Serien sind etwas Soziales – nicht nur, weil wir uns in fremde Welten einfühlen, sondern auch, weil sie als Small-Talk-Schmiermittel wirken. Der ultimative Einstieg für steife Tischgespräche: »Und was denkt ihr, was mit Tony Soprano wirklich passiert?« Jeder ist ein Serien-Experte, weiß nicht nur, wer Don Draper, Walter White, Frank Underwood oder Birgitte Nyborg ist, sondern in welche Affären sie verstrickt sind und wie sie gerne jeweils ihr Steak hätten. Dass viele aber wie Junkies nach dem nächsten Serien-Schuss aus den USA oder Skandinavien gieren, ist übertrieben. Warum dieser absurde Stress?

Warum nehmen wir uns nicht den Umgang mit Literatur oder Musik zum Vorbild? Es ist uns ja auch egal, ob wir die neue David-Bowie-Platte oder den Roman des aktuellen Literaturnobelpreisträgers (von dem man wie immer noch nie zuvor gehört hatte) genau einen Tag nach Veröffentlichung durchgearbeitet haben. Wir wissen, irgendwann kommt die Zeit für diese Werke – denn wahre Kunst wirkt immer. Im Leben gibt es genug Verpflichtungen. Wir müssen uns im Studium oder Job beweisen und versuchen, die Eurokrise zu verstehen. Das kann einen schon mal überfordern. Den künstlichen Aktualitätsdruck, immer die neueste Serie zu verfolgen, sollten wir abwehren. Wenn jemand statt »Narcos« lieber Maximilian Glanz zusieht, einer durchgeknallten Figur aus der Helmut-Dietl-Serie »Der ganz normale Wahnsinn« – das ist voll okay. Auch den 1980er-Jahre-Hit kann man, muss man aber nicht gesehen haben. Denn Serien sind nur eines: Freizeit.

»LEARNING BY WATCHING!«

Man kann stundenlang vor dem Fernseher sitzen und sein Leben verschwenden oder etwas fürs Leben lernen: Hier erzählen NEON-Leser und -Mitarbeiter, welche Serie oder Serienfigur sie wirklich beeinflusst hat.

»Ich beneide Claire Underwoods Eleganz und Selbstkontrolle«

Lena Steeg, 31, NEON-Autorin

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Foto: Michael Kohls

»In der ersten Staffel ›House of Cards‹ beneidete ich an Claire Underwood zwei Dinge: ihre Eleganz und Selbstkontrolle. Claire bringt es fertig, den ganzen Tag in High Heels herumzulaufen. Auch wenn sie zu Hause ist. So, dachte ich, muss man aussehen, wenn man eine erwachsene Beziehung führt. In Staffel zwei wurde mir aber klar, dass Claire und Frank gar keine Liebes-, sondern eine Geschäftsbeziehung haben. Logisch, dass sie ihre Arbeitsuniform zu Hause anbehält. Seither trage ich wieder gerne Birkenstocks.«

»Durch ›Rectify‹ hinterfrage ich jede Selbstverständlichkeit im Alltag«

Steffen Budke, 30, Grafikdesigner

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Foto: Michael Kohls

»Daniel Holden aus ›Rectify‹ fasziniert mich, weil ihn nach dem Aufenthalt im Todestrakt eines US-Gefängnisses selbst simpelste Dinge überfordern. Klingelt er an der Tür von Person A, aber Person B öffnet die Tür, wirft ihn das komplett aus der Bahn. Mich hat das dafür sensibilisiert, mit welchen Selbstverständlichkeiten ich täglich umgehe – und diese auch zu hinterfragen. Der Exhäftling Daniel lebt ganz unangepasst – so wie es ihm am meisten entspricht – und versucht nicht, Schritt zu halten. Das finde ich vorbildlich.«

»›Emergency Room‹ motiviert mich beim Lernen«

Dagmar Zwack, 30, Ärztin

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Foto: Max Brunnert

»›Emergency Room‹ ist ein entscheidender Grund, warum ich Ärztin geworden bin. Ich arbeite als Internistin, will aber eigentlich in die Notaufnahme. Schon bei ›ER‹ fand ich diese Mischung aus Adrenalin und Präzision cool. Ich will Spannung. Das geht besser, wenn man Leben rettet, statt als Hausarzt ewig Insektenstiche zu behandeln. Während meines Medizinstudiums haben viele ›ER‹ zwischen dem Lernen geschaut. Die Serie brachte uns manchmal wirklich etwas bei und sie motivierte uns auch weiterzubüffeln.«

»Dank Jean-Luc Picard bin ich weltoffen«

Michael Dunst, 39, IT-Spezialist

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Foto: Martina Hemm

»Es geht ja bei ›Star Trek: Next Generation‹ klassischerweise darum, neue Welten zu entdecken. Ich glaube, das hat mich zu einem weltoffenen Menschen gemacht. In der Serie kommen ja unglaublich viele verschiedene Lebensformen vor, die integriert werden müssen. Jean-Luc Picard, der Captain, hat mich geprägt. Das ist ja eher ein Gutmensch. Picard hätte alle Flüchtlinge aufgenommen, weil es zu seinem humanistischen Ideal gehört. Ich glaube ja, dass aus einem Trekie nie ein Rassist werden könnte.«

Das neue TV-Programm

Früher gab es drei Programme, später Privat- und Pay-TV. Aber seit das Internet unsere Sehgewohnheiten bestimmt, ist es schwer, den Überblick zu behalten. NEON hat die wichtigsten Kanäle und Dienstleister getestet.

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… DANN GEFÄLLT DIR AUCH!

Der Mensch ist ein einfach gebautes Wesen: Wenn uns etwas gefällt, dann wollen wir nichts mehr anderes erleben. So geht es uns auch mit Serien. Nur enden die irgendwann. Und dann brauchen wir eine Ersatzdroge. Gern geschehen!

FÜR DEN WESTEROS-REALITÄTSFLÜCHTLING:

»Valar Morghulis« alle Menschen müssen sterben. Und alle TVSerien auch. »Game of Thrones« biegt wohl langsam auf die Zielgerade ein. Was kommt danach? Eine neue, richtig große Fantasy-Serie ist nicht in Sicht. Aber am 20. November startet bei Amazon »The Man In The High Castle«. Die Show beruht auf dem Roman »Das Orakel vom Berge« des SciFi-Autors Philip K. Dick und lässt sich dem nerdfreundlichen Genre der »Alternativweltgeschichte« zurechnen. Wir dürfen erleben, wie es wäre, wenn die Nazis und Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen und die USA besetzt hätten. Als Produzent mit dabei: Ridley Scott. Man kann also kontrafaktischen Geschichtsunterricht erwarten sowie ein Universum, das genauso episch und fantasiereich ausgestaltet ist wie Westeros (und mindestens so brutal). Besonderes Plus: Übernatürliche Kräfte spielen auch eine Rolle! Nur Drachen fehlen.

FÜR DEN »BORGEN«-HOBBYPOLITIKER:

Du interessierst dich nur für Politik, wenn sie im düsteren Skandinavien ausgefochten wird? Verschwörungstheorien und TV-Gesellschaftsanalysen packen dich nur, wenn Schnee liegt und in den Hinterzimmerbüros modernes Design zu sehen ist? Gut, dann hast du Glück gehabt, denn bald kommen neue Serien aus Schweden, Dänemark und Norwegen heraus, die einen wochenlang auf dem Sofa festschrauben. »Follow The Money«, die neue Show der »Borgen«-Macher, ist zwar eher schwach, dafür kommt aus Schweden »Blue Eyes« (»Blå ögon«), eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus, die ohne moralisierende SchwarzWeiß-Zeichnung auskommt und deswegen so schmerzhaft real wirkt. Die norwegische Serie »Occupied« hingegen entwirft eine sehr aktuelle Vision der nahen Zukunft: Norwegen wird zum russischen Besatzungsgebiet, die EU schaut nur zu. Einen Deutschlandtermin für die drei Serien gibt es leider noch nicht.

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FÜR DEN SEINFELD-NERD:

Als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 seine These vom »Ende der Geschichte« veröffentlichte, lief im Fernsehen gerade die erste Staffel von »Seinfeld«. Der US-Komiker Jerry Seinfeld spielte sich darin selbst und kommentierte zusammen mit seinen skurrilen Freunden die Absurdität, die wir Alltag nennen. Zumindest das Ende der Fernseh-Comedy schien damit erreicht: Noch lustiger, noch metamäßiger, noch schlauer als »Seinfeld« konnte die Sitcom nicht mehr werden. Oder? Aber Fukuyama hatte unrecht, die Geschichte ging weiter. Es gab »Curb your Enthusiasm« und »Arrested Development« der eigentliche »Seinfeld«-Nachfolger ist Louis C. K., der sich in der FX-Serie »Louie« ebenfalls selbst spielt, aber fieser, melancholischer, philosophischer ist. In Deutschland ist die Serie leider nicht zu sehen. Aber du kennst ja Mittel und Wege (siehe linke Seite).

FÜR DIE STILSICHERE RETROJUGEND:

Mit deinem Lieblings-Retro-Oberflächenfernsehen »Mad Men« war ja nach sieben Staffeln Schluss, die Hauptfigur Don Draper hatte es geschafft, sich vom Beginn der Sechziger bis ins Jahr 1970 zu trinken und zu rauchen (und kaum was zu fühlen). Du aber hältst das 21. Jahrhundert immer noch für die langweiligste Periode der Weltgeschichte und willst der Gegenwart entfliehen? Du brauchst ein neues Fluchtjahrzehnt probier doch mal die Achtziger! Die AMCSerie »Halt and Catch Fire« erzählt von den Kämpfen der Computerbranche, als IBM noch ein Big Player war und der tragbare Computer eine Sensation (in Deutschland bei Amazon zu sehen). Die Serie »Deutschland 83« (im Herbst bei RTL) gilt als Hoffnung des hiesigen Kulturbetriebs und dreht sich um einen jungen DDR-Spion in Westdeutschland. In den USA war sie bereits zu sehen und Kritikerliebling: »Ästhetisch fast so anspruchsvoll wie »Mad Men«, schrieb der »New Yorker«.

AUFRÜSTEN

Diese vier Dinge verschönern das Koma-Serien-Schauen und reduzieren die gründe, vom Sofa aufzustehen, auf ein Minimum.

Zuhause: Der Serientrend ist auch in der Mode angekommen. Der gemütliche Sweater für Männer und Frauen (von Topman, 40 Euro).
Der Serientrend ist auch in der Mode angekommen. Der gemütliche Sweater für Männer und Frauen (von Topman, 40 Euro).
Zuhause: Optimal zum Füßehochlegen oder zum Pizzaschachtel- oder Laptop-Abstellen. Hocker, Tablett und Zierde in einem (von Menu, 199,95 Euro).
Optimal zum Füßehochlegen oder zum Pizzaschachtel- oder Laptop-Abstellen. Hocker, Tablett und Zierde in einem (von Menu, 199,95 Euro).
Zuhause: Diese Zauberstab-Fernbedienung führt über Bewegungen neun verschiedene Befehle aus (von »Harry Potter«, über amazon, 64,60 Euro).
Diese Zauberstab-Fernbedienung führt über Bewegungen neun verschiedene Befehle aus (von »Harry Potter«, über amazon, 64,60 Euro).
Zuhause: Heimkino, das den Namen verdient: Die Papp-Popkorntüten sind besser als die Schüssel (von Miss Étoile, 8,90 Euro/6er-Pack).
Heimkino, das den Namen verdient: Die Papp-Popkorntüten sind besser als die Schüssel (von Miss Étoile, 8,90 Euro/6er-Pack).

Dieser Text ist in der Ausgabe 11/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.