Liebe »Sogar im Schlaf hatte ich Angst«

Liebe: »Sogar im Schlaf hatte ich Angst«

Wegen des Mordes an drei Jungen saß Damien Echols achtzehn Jahre lang in der Todeszelle – unschuldig. Zum Glück verliebte er sich.

Für viele US-Amerikaner sind sie das Sinnbild für Justizirrtum: Damien Echols, Jason Baldwin und Jessie Misskelley – im ganzen Land bekannt als »The West Memphis Three«. Ein Gericht hatte sie 1993 wegen des Mordes an drei achtjährigen Jungen für schuldig befunden. Man hatte die Kinderleichen nackt, teilweise verstümmelt, an Händen und Füßen gefesselt in einem Wassergraben in West Memphis, Arkansas, gefunden. Ein satanisches Ritual, vermutete die Polizei und verdächtigte deshalb Echols und seine Freunde: Sie waren Außenseiter, trugen dunkle Klamotten und hörten Heavy Metal. Echte Beweise gab es keine, doch nach stundenlangen Verhören ohne Anwalt gestand der geistig zurückge­bliebene ­Jessie Misskelley die Tat und belastete auch ­seine Freunde. Baldwin und Misskelley, damals sechzehn und siebzehn Jahre alt, wurden zu lebens­langen Haftstrafen verurteilt. Ge­gen den achtzehnjährigen Damien Echols, den vermeintlichen Anführer, verhängte die Jury die Todesstrafe. Um den spektakulären Fall zu dokumentieren, schickte der Fernsehsender HBO damals zwei Filmemacher nach Arkansas. Bei der Recherche kamen Joe Berlinger und Bruce Sinofsky erste Zweifel an der Schuld der drei Freunde. 1996 strahlte der Sender die Dokumentation »Paradise Lost: The Child Murders at Robin Hood Hills« aus. Sie erregte landesweit Aufsehen, da sie zeigte, was für ein mangelhaftes Verfahren dem Urteil vorangegangen war. Als vier Jahre später neue Beweise auftauchten, die für die Unschuld der »West Memphis Three« sprachen, drehten Berlinger und Sinofsky einen zweiten Teil. Darin sieht man Anwälte und Unterstützer darum kämpfen, dass der Prozess neu aufgerollt wird. Über die Jahre hatten Prominente für die Frei­­lassung der »West Memphis Three« gekämpft, unter anderem Johnny Depp, der Pearl-Jam-Sänger Eddie Vedder, Kid Rock, ­Marilyn Manson und der Regisseur Peter Jackson.

Vierzehn Jahre nach der Tat wurde 2007 ein neben den Leichen der Jungen gefundenes Haar per DNA-Test untersucht. Die Ergeb­nisse entlasteten die drei Beschuldigten und deuteten auf den Stiefvater eines der Opfer hin. Kurz vor der Veröffentlichung des dritten »Paradise Lost«-Teils wurden sie am 19. August 2011 überraschend freigelassen – jedoch nicht freigesprochen. Sie mussten sich im Gegenteil erstmals vor Gericht offiziell für schuldig bekennen, durften in der entsprechenden Anhörung aber weiterhin ihre Unschuld beteuern – ein juristischer Kniff, um den Staat Arkansas vor einer Blamage und millionenschweren Ausgleichszahlungen zu schützen.

Inzwischen lebt Damien Echols mit seiner Frau Lorri an der Ostküste der USA in Salem, Massachusetts. NEON traf ihn dort in seinem Lieb­lingscafé.

Damien, du schreibst in deinem Buch: »Ich würde alles, was ich durchgemacht habe, noch einmal auf mich nehmen, wenn ich wüsste, dass es nötig wäre, damit Lorri mich findet.« Meinst du das ernst?
Ja, sicher. Ich sehe heute, wie alles sich zu einem perfekten Puzzle gefügt hat. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich eines Tages in die Bücherei gehe, dort ein ­Bücherflohmarkt ist, ich ein Buch über Hexerei sehe, es für zehn Cent kaufe, die Polizei später dieses Buch als Beweis dafür nimmt, dass ich ein Mörder bin, ich in die Todeszelle komme – und mir dort, von teilweise mehr als hundert Unterstützerbriefen täglich, ausgerechnet der von Lorri auffällt?

Drei Jahre nach diesem ersten Brief habt ihr 1999 geheiratet – ohne euch zuvor jemals berührt zu haben. Warum heiratet man in so einer Situation?
Das ist doch das, was man tut, wenn man jemanden liebt und ein Leben mit ihm aufbauen will. Außerdem konnte Lorri danach viele rechtliche Dinge für mich übernehmen.

Habt ihr wirklich gehofft, dass ihr einmal ein Leben zusammen aufbauen könnt?
Ein Teil von mir hat immer daran geglaubt, dass ich freikomme. Ich hatte zwar kein Vertrauen in das amerikanische Justizsystem. Es ist unglaublich korrupt. Am liebsten hätten sie mich getötet und einfach alles unter den Teppich gekehrt. Aber was mir Hoffnung gemacht hat, waren die vielen Menschen draußen, die für mich gekämpft haben. Sie hätten mich nicht einfach töten können, es hätten zu viele zugeschaut. Für mich gab es auch nur einen Exekutionstermin, den 5. Mai 1994. Angst, dass ich sterbe, hatte ich trotzdem. Im Todestrakt gab es fast keine medizinische Betreuung, und mit den Jahren wurde ich immer kränker. Ich hatte starke Schmerzen. Meinem Körper fehlten Sonnenlicht, frische Luft, Vitamine, Bewegung, gesundes Essen. Man isst so viel Müll da drin, viele Sachen waren gar nicht richtig fertig gekocht. Ich habe mich hauptsächlich von Chips und Schokoriegeln ernährt. Es gab Zeiten, in denen ich wirklich dachte, ich überlebe den nächsten Tag nicht.

Warst du glücklich, als du dich in Lorri verliebt hast?
Nein, ich habe mich schrecklich gefühlt. Um zu überleben, fährt man sein emotionales ­System da drinnen runter. Aber als Lorri in mein Leben kam, musste ich es wieder akti­vieren. Es war wie eine Physiotherapie, bei der man lernt, das kaputte Bein wieder zu bewegen – sehr schmerzhaft.

Wie kann man sich durch eine Glasscheibe hindurch ver­lieben?
Das geht mehr über die geistige Ebene. Wir ­haben uns in den Jahren mehr als 5000 Briefe geschrieben.

Wie hat es sich angefühlt, als ihr euch bei eurer Hochzeit zum ersten Mal berühren konntet?
Überwältigend, unbeschreiblich. Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich überhaupt von einem Menschen, der kein Wärter war, ­berührt wurde. Eine ziemlich lange Zeit. Wir durften sechs Gäste haben. Ich war seit Jahren nicht mehr mit so vielen Menschen zusammen gewesen. Während der 45-minütigen Zeremonie dachte ich mehrmals: Gleich kippst du um.

Durftet ihr euch nach der Hochzeit ohne Glaswand treffen?
Nein, nur weil man heiratet, ändert sich daran erst mal nichts. Manchmal haben wir durch den Sprechschlitz in der Glasscheibe geblasen, um unseren Atem zu spüren, uns zu riechen.

Ihr wart nie alleine?
Wir mussten uns erst bewähren. Der Kontakt zu Angehörigen wird im Gefängnis gerne als Druckmittel verwendet: Du musst das tun, was wir sagen, sonst darfst du deinen Vater, deine Mutter, deine Frau nicht sehen. Aber auch als wir uns endlich ohne Glasscheibe treffen durften, saß da immer ein Wärter. Erst nachdem ich in ein anderes Gefängnis verlegt worden war, also ein, zwei Jahre nach der Hochzeit, durften wir in einer Zelle allein sein.

Wie viel Zeit hattet ihr zusammen?
Jede Woche drei Stunden. Wenn ich nicht im Loch war, in der Isolierzelle. Da kam man aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen zur Bestrafung rein. Dann gab’s dreißig Tage oder mehr keinen Kontakt, mit niemandem. Im Loch bekam man nicht mal Seife, Zahnpasta oder einen Kamm. Nur eine kleine Zahnbürste. Und nach dem Loch musste man sich seine Besuchstage erst wieder neu erkämpfen.

Wenn man frisch verliebt ist, will man sich ja eigentlich von seiner besten Seite präsentieren.
Klar, aber das ging da drinnen nicht. Wenn ich jetzt den ersten Teil der Doku sehe, die damals über uns gedreht wurde, erschrecke ich jedes Mal, wie ich aussah. Es ist wirklich hart, sich an seinem absoluten Tiefpunkt zu sehen und zu wissen, dass alle anderen dich auch so gesehen haben. Ich sah fürchterlich aus. Ich wiege jetzt fast dreißig Kilo mehr.