Liebe Bist du zu nett?

Liebe: Bist du zu nett?

In der Titelgeschichte der aktuellen NEON-Ausgabe geht es um die Frage, ob man eigentlich zu nett sein kann. Die Antwort ist: ja, klar. Kann man. Wenn man Konflikten strategisch aus dem Weg geht, nicht sagt, was man denkt, fühlt, will – aus Angst, dass es jemanden ärgern, verletzen, dass es stressig sein könnte.

Dabei ist es weder für einen selbst noch für die anderen gut, wenn man immer so tut, als sei alles okay. Zumal man dann eine Fassade aufbaut, so dass niemand weiß, was wirklich Sache ist. Meistens weiß man übrigens ganz gut, ob man gerade zu nett gewesen ist. Man weiß, dass man eine Kröte geschluckt hat, ohne etwas zu sagen. Dass man nicht klargestellt hat, was man nicht wollte. Dass man etwas anders sieht. Dass man sich verarscht vorkommt. Das kann unter Freunden sein, im Job, in der Liebe.

Zu nett sind manchmal aber auch Leute, die anderen gefallen wollen, deswegen immer nur fröhlich sind, freundlich, unproblematisch, höflich. Solche Leute sind oft einfach nur »ganz nett«, wir nehmen sie nicht richtig ernst, sie sind langweilig.

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Zu nett sind übrigens viele Menschen. Vielleicht nicht immer, aber jeder kennt das, dass er denkt: da habe ich nichts gesagt, da bin ich dem Konflikt ausgewichen, da habe ich mich ausnutzen lassen. Das kennen auch die NEON-Redakteure, die unten davon berichten.

Wie ist es denn mit euch? Auch schon Erfahrungen damit gemacht? Oder kennt ihr Leute, die offensichtlich zu nett sind? Wir freuen uns über Geschichten von euch in den Kommentaren.

Martina Kix hat für andere geputzt:

Für drei Monate hatte ich meine Wohnung in Berlin an ein befreundetes Paar vermietet. Drei Zimmer. Altbau. Dielen. Kreuzberg. Zwei Zimmer haben beide bewohnt, ein Zimmer stand leer. An einem Wochenende habe ich mich als Besucher angekündigt und wurde zur Putzfrau. Die beiden hatten scheinbar zwei Monate lang die Wohnung nicht geputzt. Die weißen Kacheln in der Küche hatten einen grauen Schmutzfilm, im Bad ein dicker Staubfilm. Statt mein Wochenende in Berlin mit Freunden zu verbringen, bin ich erst einmal in den nächsten Supermarkt gegangen, habe Reiniger gekauft und den Freitag damit verbracht die Wohnung zu putzen. Als das befreundete Paar dann am Abend nach Hause kam, haben wir beide nichts gesagt und sind gemeinsam essen gegangen. Heute denke ich: Verdammt. Ich war viel zu nett. Wenn man eine Wohnung vermietet, sollten die Bewohner diese auch wie ihre eigene Wohnung behandeln und nicht wie eine Abstellkammer.

Fiona Weber-Steinhaus hat sich beklauen lassen:

Bewerbungsrunde für die Journalistenschule. Wir bekommen ein Thema, über das wir in drei Stunden eine Reportage schreiben müssen. Die Bewerber reden über mögliche Orte und Geschichten. Ich habe vorher recherchiert. Als mich eine Mitbewerberin nach einem Tipp fragt, sage ich ihr meine Idee. Sie sprintet los, sagt nicht einmal Danke. Ich irre kopflos durch die Innenstadt, auf der Suche nach einem neuen Thema und ärgere mich sehr über mich selbst. Der Trost kam zwei Monate später: Ich wurde genommen, sie nicht. Ha! Es gibt wohl doch so etwas wie Karma.

Jakob Schrenk brüllt die Leute bei 02 nicht an, obwohl es längst Zeit ist:

Tocotronic haben mal in einem Lied behauptet, dass Gitarrenhändler Schweine sind. Ich kann das nicht beurteilen. Ich habe noch nie versucht, eine Gitarre zu kaufen. Ich versuche allerdings seit nun schon fast zwei Wochen ein Handy zu kaufen. Bei O2. Es fing auch gleich schlecht an. An Tag 1 wollte ich in der O2-Filiale am Stachus in München meinen Vertrag verlängern, das dauerte inklusive Wartezeit eine Stunde, am Ende sagte mir der Mann, er bräuchte jetzt noch meinen Ausweis. Den hatte ich aber leider nicht dabei. Anstatt zu fragen, warum O2 eigentlich für eine ganz normale Vertragsverlängerung meinen Ausweis braucht, lief ich brav nach Hause. Als ich wieder da war, war der alte Verkäufer weg. Der neue Verkäufer sagte, er müsste jetzt noch einmal alles neu aufnehmen. Am Ende sagte er, es tue ihm leid, die Bonitätsprüfung sei noch ohne Ergebnis. Also kam ich am Tag zwei wieder. Der Verkäufer tippte in seinem Computer herum und sagte, er hätte mich jetzt aus Versehen bei Napster angemeldet, ob das okay sei. Ich sagte nichts. Die Bonitätsprüfung sei allerdings immer noch nicht erfolgt, sagte mir der Verkäufer dann, ob ich vielleicht in zwei Stunden noch einmal kommen könne? Konnte ich. Ich habe dann auch nicht herumgeschrien, als die Bonitätsprüfung dann am Ende von Tag 2 immer noch nicht abgeschlossen war. An Tag 3 übrigens auch nicht. An Tag 5 ging ich nicht mehr in den Laden, sondern telefonierte mit der Hotline. Dort sagte mir eine Dame, dass ich froh sein solle, dass die Bonitätsprüfung immer noch nicht erfolgt sei, denn sonst würde ich drei Handyverträge und zwei Handys gleichzeitig bekommen, offenbar sei etwas bei der Bestellung schief gelaufen. Sie könne die Bestellung aber auch nicht stornieren. Wenn ich wollte, könnte ich mich beschweren, aber nur per Fax oder Brief, die Emailadresse der Beschwerdestelle würde gerade nicht funktionieren. Ich habe mich beschwert, in einem freundlichen Brief, natürlich habe ich keine Antwort bekommen. Ein Handy habe ich immer noch nicht. Ich dachte immer, ich sei stark. Aber O2 ist stärker.

Onur Yildirancan telefoniert, wenn er zuhause sein sollte:

Man sagt mir oft nach, zu nett zu sein. Ich sehe das natürlich ganz anders. Mit meinen warmen Worten habe ich schließlich schon einige Menschen rumgekriegt: Chefs, Makler, Freundinnen. Aber es gibt da einen konkreten Fall, bei dem mir die Nerven kläglich versagen: Wenn mir eine Kollegin ihren Telefondienst aufbrummt. Zur Erklärung: Es kommt alle naselang mal vor, dass unsere Büroleitung vor 18 Uhr das Gebäude verlassen muss – und sich dann jemanden rauspickt, auf den das Telefon umgeleitet wird. Tja, und dieser zuverlässige Knabe bin dann meistens ich.
Es ist ein Teufelskreis: Jedes Mal werde ich völlig unvorbereitet überrascht und hab nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit für eine phänomenale Ausrede: Ich muss zum Friseur. Ich hab ein Date. Mein Hund ist krank. Muss mal kurz die Welt retten. Gedanken, die mir erst nach dem Gespräch einfallen. Stattdessen sage ich Amen und Danke. Ein Teufelskreis.

Alard von Kittlitz revanchierte sich für einen Gefallen 1000 Mal:

Ich komme mir immer noch oft zu nett vor. Ich schlucke meinen Ärger dann hinunter und sage nicht, dass mir etwas nicht passt, oder dass ich etwas nicht fair finde. Das war leider immer schon so. Eine meiner frühesten Zu-Nett-Erinnerungen ist aus der Kindheit. Ich habe mir lange ein Zimmer mit meinem Bruder geteilt, wir haben in einem Stockbett geschlafen, mein älterer Bruder oben, ich unten. In meiner Erinnerung habe ich meinem Bruder alle paar Nächte ein Glas Wasser geholt. Eigentlich immer, wenn er nachts wach wurde. Er hatte den Trick, dann auf unendlich nervige Art immer wieder leise »Alard. Alard. Alard. Alard« zu flüstern, bis ich es nicht mehr aushielt und »Was denn?« jammerte. Dann war alles verloren. »Kannst du mir ein Glas Wasser holen?« Klare Antwort: »Hol es doch selbst!« Dann, genial von meinem Bruder: »Ich habe dir auch schon mal einen Gefallen getan.« Mein fünfjähriges Gehirn war noch nicht weit genug, um die Absurdität dieses Arguments als solche bloßzustellen. Ich machte dann nur einen geistigen Purzelbaum der Verzweiflung. Wenn ich weiter bockte, legte mein Bruder noch einen drauf: »Du hast doch einfach nur Angst.« Absolut wahr. Ich hatte entsetzliche Angst vor dem Gang durch das dunkle Haus in die Küche. Umso schlimmer, dass ich das natürlich nicht auf mir sitzen lassen konnte.