Liebe Einen Moment noch

Liebe: Einen Moment noch
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom Februar 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.

Weil der Alltag immer schneller wird, müssen wir immer weniger warten. Das ist schön. Doch wir verlernen eine hohe Kunst.

Mein Chef erzählte mir folgende Geschichte. Sein bester Kumpel schickte ihm eines Vormittags um zehn Uhr eine SMS: »Gehen wir heute Abend ins Kino?« Mein Chef fuhr gerade Auto, er las die Nachricht, legte das Handy weg und vergaß zu antworten. Um vierzehn Uhr loggte er sich bei Facebook ein. Nach einigen Sekunden bekam er dort eine Nachricht von seinem Kumpel: Wieso er Zeit für Facebook finde, aber immer noch nicht auf die SMS reagiert habe? Mein Chef findet das sehr ungeduldig. Gibt aber zu, dass er sich andersherum genauso beschwert hätte.

Es gibt kaum noch natürliche Wartezeit. Die Zeit, die der Postbote braucht. Die Zeit, die es bis zum Rückruf dauert, nachdem man auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen hat. Man spricht ja nicht mehr auf Anrufbeantworter. Man ruft auf dem Handy an und spricht gegebenenfalls auf dessen Mobilbox. Oft ruft der Angerufene zurück, bevor er die Nachricht abgehört hat: »Du hast vorhin angerufen? Sorry, konnte nicht drangehen. Was gibt’s denn?« Wenn man nicht drangehen kann, spricht er das auf die Mobilbox. Und fragt sich nach einer Viertelstunde, wo der Rückruf bleibt.

Wir sind dabei, das Warten zu verlernen. Hat der Buchladen das Buch nicht, muss man am nächsten Tag wiederkommen. Das nahm man früher halt so hin. Jetzt macht man verärgert kehrt, bestellt das Buch zu Hause selber bei Amazon und hat das Gefühl, Zeit gespart zu haben. Ein australischer Frosch namens Cyclorana alboguttata muss sich am Ende jeder Regenzeit in einer Erdhöhle vergraben und dann regungslos darauf warten, dass es wieder von neuem regnet. Das kann mehrere Jahre dauern. In dieser Zeit fragt sich der Frosch vielleicht ein paarmal, ob Australien wirklich so eine gute Idee war, aber er wartet.

In einer Allensbach-Umfrage gaben 43 Prozent der Befragten an, Warten bedeute für sie Stress. Und wir empfinden schon die Sekunden, die ein Computer zum Hochfahren braucht, als Wartezeit. In dieser Unrast steckt auch eine gute Nachricht. Wir müssen heute einfach weniger warten als gestern. Züge fahren schneller, Nachrichten verbreiten sich sofort über Millionen Displays, die Lieblingsserie läuft auf irgendeinem Stream, bevor deutsche Programmplaner von ihr gehört haben. Laut dem Zeitforscher Karlheinz Geißler haben sich unser Reisetempo und die Kommunikation im Lauf des 20. Jahrhunderts um mehr als das Hundertfache gesteigert.

Je weniger wir aber warten müssen, desto weniger sind wir dazu imstande. »Jetzt« ist das Lieblingswort des Werbetexters. »Wir können nicht mehr warten, weil wir immerzu gesagt bekommen, Warten wäre etwas Schlechtes«, sagt Geißler. »Das bekommen wir gesagt, da mit wir Geräte kaufen, die versprechen, das Warten abzuschaffen. Um diese Hoffnung gut verkaufen zu können, sorgen die Geräte für mehr Wartereium so wieder versprechen zu können, sie abzuschaffen.« Geißler glaubt sogar, in Wahrheit würden wir heute mehr warten denn je: vor dem Bildschirm, in Hotlines, in Staus.

Es gibt auch Menschen, die gar keine Probleme haben mit dem Warten. Frauen fällt es leichter zu warten als Männern, Mädchen leichter als Jungen, Kinder aus der oberen Mittelschicht können besser warten als Kinder aus anderen Schichten, Geschwistern fällt warten leichter als Einzelkindern. Aber was heißt das eigentlich? Also: Welchen Vorteil haben Menschen, die gut warten können? Natürlich, Geduld fühlt sich zunächst schöner an als Ungeduld, ein Tagtraum macht viel mehr Spaß als wütende Blicke auf die Uhr. Doch das hört sich läppischer an, als es ist.

Was die Kunst des Wartens fürs Leben bedeutet, hat der damalige Stanford-Psychologe Walter Mischel vor rund vierzig Jahren fassbar gemacht. Er setzte vierhundert Kinder, zwischen vier und sechs Jahre alt, jeweils allein an einen Tisch; darauf lagen eine kleine Süßigkeit, eine große Süßigkeit sowie eine Glocke. Er sagte jedem Kind, er werde nun für geraume Zeit das Zimmer verlassen. Könnte das Kind auf ihn warten, bekäme es die große Süßigkeit. Würde das dem Kind zu lang dauern, dürfte es ihn mit der Glocke sofort rufen, bekäme dann aber nur die kleine Süßigkeit. Die Kinder erfanden unterschiedliche Strategien, um sich in den zwanzig Minuten, die Mischel weg war, davon abzubringen, dass sie die Glocke läuten. Einige hielten sich die Augen zu, andere sangen vor sich hin oder redeten beruhigend auf sich selbst ein. Ein Kind schlief absichtlich ein. Die volle Zeit zu warten, schaffte aber nur ein Drittel der Kinder.

Die Versuchsteilnehmer ließen sich Jahre später nochmals von Mischel beleuchten. Dabei stellte Mischel fest, dass die Zahl der Sekunden, die ein Kind durchgehalten hatte, mit erstaunlicher Verlässlichkeit dessen spätere Persönlichkeit voraussagte. Gut zehn Jahre nach dem Süßigkeitentest waren diejenigen besonders ausgeglichen, kooperativ und gut in der Schule, die seinerzeit besonders lange auf ihre Belohnung hatten warten können. Noch als Erwachsene kamen sie besser mit Stress zurecht und waren selbstbewusster. Diejenigen, die als Kinder schon sehr ungeduldig gewesen waren, neigten auch in späteren Jahren dazu, Herausforderungen aus dem Weg zu gehen; sie waren dann unentschlossener, misstrauischer und frustrierter als die einst geduldigen Probanden.

Warten ist so unerträglich, weil es heißt, ausgeliefert zu sein. Man sagt ja nicht: »Gleich, sofort, ich muss nur noch warten, bis ich in die Gänge komme.« Sondern man wartet darauf, dass andere etwas tun. Andere, die schneller könnten, wenn sie wollten, aber nicht müssen, weil sie dürfen. Der Höhere lässt den Niedrigeren warten. Der Chef den Bewerber, der Entscheider den Antragsteller, der Stau den Fahrer – auch ein Stau ist ja eine Macht, die man wegen ihrer Willkürherrschaft manchmal gern vor Gericht brächte. 44 Prozent der Autofahrer verlassen die Autobahn, sobald sie eine Staumeldung hören. Schneller werden sie davon nicht. Im Gegenteil, wer den Stau einfach wartend erträgt, ist früher am Ziel. Wobei ein Stau oft durch Autofahrer entsteht, die dicht auffahren und bremsen, sodass auch ihre Hinterleute bremsen müssen, bis irgendwo weit hinter dem ersten ungeduldigen Fahrer die Autos ganz zum Stehen kommen. Weil einer nicht warten konnte, müssen nun die anderen warten. (Sind Drängler schneller? Ein Versuch auf der Wiener Stadtautobahn zeigte: ja. Aggressive, knapp auffahrende Autofahrer sparten gegenüber passiven Fahrern auf einer fünfzehn Kilometer langen Strecke zwanzig Sekunden.) Kurzum, wir finden das Warten fürchterlich, weil wir es nicht kontrollieren.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die Kontrolle zu gewinnen. Erstens: Alles auf der Welt geht so schnell, dass man nie mehr wartet. Das ist natürlich eine Illusion; trotzdem rennen wir ihr hinterher. Zweitens: Wir nehmen die erzwungenen Pausen hin. Je besser wir mit ihnen zurechtkommen, also je bereitwilliger wir warten, desto stärker haben wir wieder das Gefühl, Herren unserer eigenen Zeit zu sein. Man macht aus unfreiwillig freiwillig, und schon ist man der Chef. Und aus dem Nichtstun macht man eine Strategie. Es ist ja tatsächlich oft klüger zu warten, als zu handeln. »Wenn ich meine Freundin zum falschen Zeitpunkt frage, ob sie mich heiraten will, oder den Chef zur ungünstigen Zeit um eine Gehaltserhöhung angehe, muss ich damit rechnen, meine Ziele selbst zu vernichten«, sagt der Soziologieprofessor Hartmut Rosa von der Universität Jena.

Wenn Menschen, die gut warten können, besser durchs Leben kommen: Was kann man von ihnen lernen? Der Franzose Ludovic Hubler reiste fünf Jahre per Autostopp und hat errechnet, dass er dabei etwa 20 000 Stunden mit Warten verbrachte. In einem NEON-Interview gab er einige Ratschläge dafür. »Mache das, wozu du sonst keine Zeit hast«, sagte er. Zum Beispiel habe er oft geschlafen. Wenn nichts Nützliches zu tun ist, empfiehlt Hubler das Zählen. »Steinplatten, Mücken, Lampen, Menschen, Autos – in Zweierschritten oder Fünferschritten, das hilft«, sagte Hubler. Kinder, die gut warten können, vermeiden es, das Objekt ihrer Begierde anzustarren. Frauen – denen es ja leichter als Männern fällt zu warten – träumen vor sich hin, zum Beispiel vom nächsten Urlaub. Hartmut Rosa empfiehlt, zur Übung sonntags so lange keine Mails mehr zu lesen, bis es einem zur Gewohnheit geworden ist. Die oberste Regel des Wartens scheint zu sein, an etwas anderes zu denken.

Unternehmer, die uns als Kunden wollen, wissen natürlich, wie ungern wir warten. Da einige von ihnen obendrein wissen, dass es ganz ohne Warten nie gehen wird, versuchen sie inzwischen, es uns etwas leichter zu machen. Weil aus der Psychologie bekannt ist, dass Wartepausen besser akzeptiert werden, wenn ihre Ursache und ihre Dauer bekannt sind, erfahren Zugreisende vieles über Triebfahrzeugstörungen, belegte Gleise oder Böschungsbrände; Warteschlangen kriechen an Schildern vorbei, auf denen steht: »Ab hier noch etwa eine halbe Stunde«. Das mag manchmal geflunkert sein, genau wie der angebliche Fortschritt im Fortschrittsbalken, aber so bekommen wir das Gefühl zurück, die Lage im Griff zu haben. Unser eigener Herr zu sein. Und wer sein eigener Herr ist, kann auch entscheiden, mal eine Pause einzulegen. Zeit zu verbringen, ohne sie zu nutzen. Zu dösen, ohne zu denken. Für einen Moment nichts zu erfinden, zu planen, zu lösen. Klingt nach Dalai-Lama-Hörbuch? Ja. Aber bis zum Eintreffen des Busses das Smartphone mal in der Tasche zu lassen und nur das Gras zwischen den Bordsteinplatten anzugucken, ist wirklich sehr erfrischend.

Gäbe es überhaupt keine Wartezeit mehr – in Wahrheit wäre das schrecklich. Es würde bedeuten, dass auch auf uns niemand mehr wartet. Denn wenn sich ein Kumpel beschwert, dass er auf seine SMS endlich eine Antwort will, heißt das ja nur, dass er uns mag.