Text: David Pfeifer / Foto: Léonie Hampton
Die schlechtesten Ausreden, die ein Erwachsener vorbringen kann, sind in dieser Reihenfolge:
1. Mein Handy hatte keinen Empfang.
2. Ich bin so, weil meine Mutter etwas falsch gemacht hat.
3. Ich bin so, weil mein Vater etwas falsch gemacht hat.
4. Ich bin so, weil ich im Schulsport immer zuletzt gewählt wurde.
Ausrede Nummer eins ersetzt bei Erwachsenen den Klassiker: »Die Katze hat meine Hausaufgaben gefressen.« Eine Notlüge ohne kriminelle Energie. Die anderen Aus-reden fallen in eine unangenehmere Kategorie. Wenn man nicht gerade Psychoanalytiker ist, kann man von außen nicht klären, wie plausibel die Ausrede ist, ihre Ursache liegt verschüttet: in der Vergangenheit, im Unterbewusstsein.
Ausreden dieser Art sind bequem, denn was man nicht fassen kann, das kann man auch nicht ändern. Demzufolge muss man es auch nicht ändern, sondern hat einen Freischein, sich weiterhin danebenzubenehmen. Bequemlichkeit ist ein starker Trieb. Menschen sind faul – warum wäre sonst das Rad erfunden worden?
Außerdem sind solche Ausreden nicht kritisierbar. Wenn jemand dauernd zu spät kommt, also die Lebenszeit seiner Mitmenschen als weniger wertvoll ansieht als die eigene, könnte man ihn zu Recht als asoziales Arschloch bezeichnen. Wenn derjenige aber vorbringt: »Ich kann mich nicht festlegen, weil meine Eltern ganz schlimm Funktionsdruck auf mich ausgeübt haben« – dann ist man plötzlich selber der Arsch, der keine Rücksicht nimmt auf die tief liegenden Sorgen des Zuspätkommers.
Das führt zum wichtigsten Punkt, der die Perfidie dieser Ausreden ausmacht: Man verdreht die Positionen. Aus einem Täter, der andere warten lässt, fremdgeht oder bindungsunwillig ist, wird ein Opfer. Einer, der an seinen eigenen Defiziten leidet, wenn er unorganisiert ist, nicht treu sein oder sich nicht festlegen kann, weil er sonst »fürchtet zu ersticken«.
Doch obwohl diese Ausreden, wenn schon nicht erfunden, so doch oft zusammenfantasiert sind, obwohl sie unkritisierbar, faul und perfide sind, kommen erstaunlich viele Menschen erstaunlich oft damit durch. Und wie eine gute Lüge wird eine gute Ausrede erst dann so richtig überzeugend, wenn derjenige, der sie vorträgt, sie sich selbst glaubt.
Das Herausreden auf die Eltern oder die Umstände, in denen man aufwachsen musste, ist eine Gesellschaftsepidemie. Sie überträgt sich über den Rotwein, der bei Abendessen mit Spaghetti in der WG zu reichlich genossen wurde. (»Wisst ihr, ich war in der Schule immer der Idiot, deswegen lechze ich heute so nach Beachtung.«). Sie gedeiht in Beziehungen, in denen verzweifelt nach Ursachen für Harmoniemangel geforscht wird. (»Natürlich kannst du dich nicht öffnen, wenn deine Mutter dich emotional immer überfordert hat.«) Die Epidemie greift vor allem in gebildeten, modernen Milieus um sich, in denen gerne und vielüber sich nachgedacht, das eigene Innenleben sorgsam erforscht und vor allem sehr viel darüber geredet wird.
Schon richtig: Stress der Mutter kann das Kind prägen
Als Erfinder der seelischen Auslotung gilt Sigmund Freud, er erforschte den Zusammenhang zwischen Charakter und frühkindlicher Prägung. Ihn für die heutige Form dieser Ausreden verantwortlich zu machen, wäre allerdings das Gleiche, als würde man Einstein das nukleare Wettrüsten unterschieben.
In Wien, wo Freud forschte und behandelte, wird die Psychoanalyse weiterhin besonders hoch gehalten. Sie gilt gewissermaßen als kulturelles Exportgut. An der Universitätsklinik verfeinert beispielsweise Professor Stephan Doering, 44, Leiter der Abteilung Psychoanalyse und Psychotherapie, Freuds Thesen. Doering hat eine gewinnende Art, mit seinem Fach umzugehen. Unter anderem hat er das Buch »Frankenstein und Belle de Jour« herausgegeben, in dem verschiedene Filmcharaktere, von Hannibal Lecter bis zum Rain Man, und ihre psychischen Störungen beschrieben werden. Für die Technik, sich auf seine Eltern herauszureden, benutzt Doering einen schönen Begriff: »Parent-Blaming«. »Sicher haben Freuds Thesen das Parent-Blaming früh in Intellektuellen- und Künstlerkreisen etabliert«, erklärt Doering, »die Eltern verantwortlich zu machen, wurde in Deutschland allerdings erst im Zuge der 68er-Bewegung richtig populär.« Die deutsche 68er-Generation hatte allen Grund, mit Eltern ins Gericht zu gehen: Viele hatten Nazis unterstützt oder zumindest nichts gegen die Nazis unternommen – so oder so etwas, das ihre Kinder nicht verzeihen konnten.
Hinzu kam, dass die Nazis eine Vererbungstheorie verfolgten, die sich nur auf genetische Disposition stützte: die Rassenlehre mit ihren grauenvollen Konsequenzen. Als Gegenreaktion wurde in den Jahrzehnten nachdem Krieg fast jedes Verhalten mit psychologischen Ursachen begründet. »Die Psychiatrie ist daran mit schuld«, erklärt Professor Doering: »Auch im wissenschaftlichen Bereich hat man bis in die Siebzigerjahre die Hypothese verfolgt, dass alles durch die Eltern ausgelöst wird.« Bemerkenswert ist allerdings, dass sich das Psychologisieren als gesellschaftliches Phänomen halten konnte. Immerhin ist die Generation der Nazis fast ausgestorben, und die 68er sind die hyperaufgeklärten und toleranten Eltern derer, die sich heute über ihre Jugend beschweren – trotz aller kindlichen Freiheiten.
Keine Frage: Die Eltern haben den größten Anteil daran, dass wir werden, wer wir sind. Nach heutigem Stand der Wissenschaft entwickelt sich unsere Persönlichkeit zu etwa gleichen Teilen aus Erbanlagen und frühkindlichen Erfahrungen. Diese frühkindlichen Erfahrungen beginnen schon vor der Geburt. Die Hormone der Mutter beeinflussen die Entwicklung des Gehirns des Embryos. »Hat die Mutter viel Stress in der Schwangerschaft, kann es durchaus sein, dass ihr Kind später einmal wenig belastbar wird«, sagt Doering. In den ersten Jahren saugt das Baby dann Umwelteinflüsse auf wie ein Schwamm. Ob wir erlebnishungrig werden, ängstlich, extrovertiert oder neugierig, wird so früh in unserem Leben festgelegt, dass wir später selbst praktisch keinen Zugriff mehr auf die Ursachen haben. Nicht einmal die Eltern wissen genau, was woher kommt.
»Die Psychiatrie ist daran mit schuld.«
Bei Eltern von zwei Kindern hört man ja häufig den Satz: »Warum sind die so verschieden, wir haben doch alles gleich gemacht?«
Doch Psychologie bleibt eine ungefähre Wissenschaft mit vielen »Kommt auf den Einzelfall an«-Einschränkungen. Wer eine genetische Disposition zur Depression hat, kann Glück mit der eigenen Biografie haben und nie krank werden. Andererseits kann jeder Mensch ohne diese Erbanlagen in eine sogenannte reaktive Depression rutschen, zum Beispiel bei starkem Liebeskummer. Einerseits ist es also legitim, die Ursachen für sein Verhalten bei den Eltern zu suchen, egal, ob es ihre Erbanlagen oder ihr Einfluss waren, »doch entscheidend ist, was für Konsequenzen man aus dieser Erkenntnis ableitet«, sagt Professor Doering: »Man kann ja nicht sagen: Hat eh alles keinen Sinn, ich bleibe einfach liegen.«
In seinem Arbeitsalltag erlebt Doering Patienten, die durchaus manifeste Probleme haben, die aus ihrer Kindheit stammen. »Wir kennen Krankheiten wie das Borderlinesyndrom oder chronische Formen von Depression – da ist es schon ein Erfolg, wenn diese Menschen wieder ein eigenständiges Leben führen können.« Andererseits erlebt Doering auch Menschen, die zwar Veränderungswillen vorgeben, eigentlich aber nur Legitimation suchen: Seht her, ich habe es versucht, aber ich habe doch immer schon gesagt, ich bin verkorkst.
Professor Doering und seine Kollegen an der Uniklinik Wien fragen Patienten vor der Behandlung, was sie selbst glauben: Warum sind Sie, wie Sie sind? Sagt einer, dass nur seine Gene oder Eltern schuld seien, stellt sich die Frage nach der Therapiemotivation. Eltern und Gene lassen sich nicht ändern. »Es geht letztlich um die durchaus philosophische Frage, wie viel Freiheit man selbst hat«, sagt Doering.
Der Vater hat im Streit autoritär reagiert, die Mutter hat aus Überforderung geweint, man wurde mal zu heiß gebadet. Eltern sind auch nur Menschen, und sie versagen, genau wie ihre Kinder, wenn sie Eltern werden. Wer sich aus solchen Erlebnissen eine Leidensfolklore zusammendichtet, mit der er sein eigenes Fehlverhalten erklärt, kann sich bequem damit einrichten und bis zum Ende seiner Tage glücklich werden mit dem eigenen Unglück. Wirklich merkwürdig ist an dieser Haltung, dass sich jemand freiwillig zum Opfer macht und sich in eine passive Rolle begibt. Wollen wir nicht alle Herren unseres Lebens sein, unser Schicksal in die Hand nehmen, etwas aus uns machen?
Nein, das wollen nicht alle. Opfer sind nicht Schuld, Opfer dürfen klagen, Opfer würden ganz anders, wenn sie nur könnten. Opfer zu sein, ist eine große Erleichterung.
Von Geburt an werden wir dazu erzogen, Glück zu erwarten. Als wäre Liebe etwas, das uns zusteht, als müsste man für privaten und beruflichen Erfolg nur den richtigen Dreh -herausbekommen. Unsere Eltern reden uns als Kinder ein, wir seien etwas Besonderes. Und dann werden wir erwachsen und wundern uns, dass es nicht so ist. Praktisch nichts geht von selbst, für die Liebe muss man arbeiten, Erfolg muss man sich erkämpfen, und das geht jedem so. Wir stellen fest, dass unsere Eltern uns durchgehend angelogen haben, um uns zu schonen, uns Vertrauen in die Welt zu geben. Was sollen Eltern auch anderes tun? Einem kleinen Kind sagen, dass es sich die Jammerei besser frühzeitig abgewöhnen sollte, weil es bestimmt noch viel schlimmere Dinge erleben wird als ein aufgeschlagenes Knie?
Man ist nicht mittelmäßig, sondern blockiert
Wenn wir dann unser eigenes Leben leben, nicht mehr eingehegt von elterlicher Fürsorge, stellen wir fest, dass Lebensglück so stabil ist, wie mit Tellern zu jonglieren: Man muss alles ständig im Auge behalten, und trotzdem zerbricht immer wieder etwas. Kluge Menschen nehmen das als Prüfung. Weniger kluge Menschen reagieren beleidigt und versuchen sich der Lebensanstrengung zu entziehen.
Theoretisch gibt es keine Grenze mehr, die wir nicht überschreiten könnten. Wir dürfen alles machen und alles werden, Raumfahrer, Tischler, Maler, wir können eine Familie gründen oder es lassen, unseren Partner frei wählen. Unsere Gesellschaft lässt, zumindest in einem gebildeten, modernen Milieu, fast jeden Lebensentwurf zu. Aber wenn unbegrenzte Möglichkeiten zur Verfügung stehen, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass man selbst schuld ist, wenn man nichts daraus macht. Es ist eine harte Erkenntnis, dass aus uns nicht nur tolle Lebenspartner, gute Tischler, brillante Maler und perfekte Eltern werden und dass nur wenige Menschen wirklich ins All fliegen – gerade, wenn man nicht dazugehört. Sieht man seinen Anteil daran, muss man damit klarkommen, dass die eigene Kraft oder das eigene Talent nicht ausreichen. Sieht man sich bloß als Opfer, bleibt die Möglichkeit, dass die Umstände, die Regierung, das Wetter – oder eben die Eltern die Schuld daran tragen. Man ist dann nicht mittelmäßig, nur blockiert.
Dieser Text ist in der Ausgabe 10/11 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.