Liebe Ruhe, bitte!

Liebe: Ruhe, bitte!
In Beziehungen, heißt es, müsse man absolut ehrlich sein. Das ist das große Missverständnis der modernen Liebe.

Artwork: Lucas Simões

Da sitzen die beiden und reden. Er gestikuliert, eigentlich ist es schon Sport, die Arme rudern, weit ausholend wie seine Argumentation. Sie sitzt still da, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf dem Restauranttisch, Kinn in der rechten Handinnenfläche, sie macht große Augen, nickt, schüttelt den Kopf, nickt erneut. Wortfetzen wehen herüber. Es geht offenbar um die Exbeziehungen des Mannes. Und was die beiden nun als Paar aus seinen Erfahrungen lernen können, ja: müssen. Sie schaut angemessen ernst, aber dann doch auch kurz auf die Königsberger Klopse vor sich auf dem Tisch, die langsam in der Soße aufweichen. Er sieht das, und dann rot. Da gibt es hier gerade so viel zu besprechen und sie ist gedanklich beim Essen!

Emo-Performances in der Öffentlichkeit sind immer ein bisschen peinlich; für die Darsteller, klar, aber auch für das Publikum, das ja nicht gefragt wird, ob es das überhaupt will: zuschauen. Dann aber denkt man sich: Hat der Typ etwa recht? Ist es wirklich so wichtig, in einer Beziehung alles zu thematisieren, was einen bedrückt, mal bedrückt hat oder künftig bedrücken könnte? Wird die Liebe tiefer, wenn man keine Geheimnisse mehr voreinander hat?

Die Ehrlichkeitserwartung hat sich zu einem Wahrheitshype entwickelt

Die meisten jungen Paare würden wohl sagen: Ja. Nach einer Umfrage der Online-Partnervermittlung Elitepartner unter 10 000 Befragten ist »Wenn der Partner unehrlich ist, etwas verheimlicht oder lügt« mit 71 Prozent nach »Fremdgehen« der zweithäufigste Trennungsgrund. Es ist menschlich, sich vor Verrat, Betrug und verantwortungslosen Alleingängen zu fürchten, die das Paar als Paar existenziell angreifen. Doch die natürliche Erwartung, nicht belogen zu werden, hat sich zu einem Wahrheitshype entwickelt.

Die Website honestyexperiment.com zum Beispiel bietet Paaren eine dreißigtägige Ehrlichkeitskur an mit vielen Tipps! , die die Partner einander näher bringen soll. Der US-Psychologe John Gottman rät in seinem Buch »Die Vermessung der Liebe Vertrauen und Betrug in Paarbeziehungen« auch Menschen, die ihren Partner betrogen haben, zu einem »Alles-Preisgeben-Ansatz«: Detailliert solle man dem anderen berichten, wie, wann und an welchem Ort man ihn betrogen hat, ganze Szenarien nacherzählen, keinen Schleier mehr vor die Wahrheit schieben. Gottman schreibt: »Es stimmt, dass diese Offenlegung sehr schmerzhaft ist, aber sie ist notwendig.« Und der populäre Dokumentarfilm »The And« (theand.us) zeigte 2014 dreißig Paare, die sich vor der Kamera schonungslos verhören:
– Hast du mich schon einmal betrogen?
– Haben wir genug Sex?
– Wer von uns hat mehr Macht?

Um der unverbindlichen Wegwisch-Aura von Dating-Plattformen wie Tinder und Finya etwas entgegenzusetzen, denken wir: Wer wahrhaft liebt, legt die Maske ab. Absolute Ehrlichkeit und Transparenz gelten als Grundbausteine jeder guten Partnerschaft.

»Grundsätzlich ist Offenheit natürlich wichtig für eine Beziehung«, sagt die Diplom-Psychologin und Paartherapeutin Lisa Fischbach, die auch die Abteilung »Forschung und Matchmaking« bei Elitepartner leitet, »aber sie geht auch mit Verantwortung einher.« Der Klassiker: Wie geht man mit einem Seitensprung um? Hat man eine moralische Verpflichtung, dem Partner die Verfehlung zu gestehen? Oder will man durch das Geständnis nur das eigene Gewissen erleichtern? »Die Wahrheit ist nicht automatisch die fairste Lösung«, sagt Fischbach. Es hänge stark vom Einzelfall ab, ob Ehrlichkeit eher schadet oder nützt. Welche Regeln gelten in der Beziehung? Handelt es sich um eine Weihnachtsfeierverfehlung oder eine hoch emotionale Affäre? Fischbach sagt: »Vor allem in Alltagsgesprächen sollten Paare manchmal auf die Ehrlichkeitsbremse treten.«

»Es gibt einen neuen Zwang, sich ununterbrochen einander zu erklären«

Das ist ein überraschender Ratschlag. Schließlich galten mangelnde Kommunikationsskills und Schweigen lange Zeit als Liebeskiller. »Noch in den 60er Jahren wurden vor allem Männer zu einer sachlichen Kommunikation erzogen und maßen dem Sprechen über ihre Gefühle wenig Bedeutung bei«, sagt Fischbach. In den vergangenen Jahren habe die Beziehungskommunikation jedoch einen Quantensprung erlebt. Das emotionale Sprechen über Probleme und Bedürfnisse sei mittlerweile von beiden Geschlechtern als Basis aller menschlichen Beziehungen anerkannt. Eigentlich eine schöne Entwicklung, die allerdings oft übererfüllt wird. Fischbach sagt: »Es gibt einen neuen Zwang, sich ununterbrochen einander zu erklären.«

Genau wie beim Paar am Tisch nebenan. Dort hat sie mittlerweile das Wort ergriffen, erzählt von einem neuen Kollegen, den sie »interessant« findet. Der Kollege, erfährt ihr Freund, sei attraktiv, kompetent und erzähle in der Mittagspause immer wahnsinnig witzige Geschichten. Ach ja, Single ist er auch. Nun ist es ihr Freund, der betreten nickt und die Königsberger Klopse anstarrt.

Man möchte einschreiten und schreien: Too much information! Information-Overkill! Kein Wunder, dass euch beiden langsam der Appetit vergeht. Die Wahrheit, möchte man dann noch sagen, ist kein Hauptgericht, sondern ein Gewürz. Und wie großzügig man sie dosiert, hat nicht zwangsläufig etwas damit zu tun, wie loyal man seinem Partner gegenübersteht oder wie sehr man ihn liebt.
– Magst du meine Freunde?
– Hast du eigentlich Schulden?
– Bin ich zu dick?

Empathie ist bei der Beantwortung dieser Fragen mindestens so wichtig wie Ehrlichkeit. Denn die Wahrheit kann auch zu einer Waffe werden, sie ist nie bloße Mitteilung, keine Information am Rande, sie ist etwas, zu dem sich der andere ab diesem Moment verhalten muss. Es gibt keine Wahl mehr. Die Wahrheit ist in der Liebe oft auch eine Zumutung.

Liebe: »Weil die Wahrheit machnmal nicht genug ist. Manchmal verdienen die Menschen mehr.« – Batman in »the dark knight« (2008)
»Weil die Wahrheit machnmal nicht genug ist. Manchmal verdienen die Menschen mehr.« – Batman in »the dark knight« (2008)

Hinter dem Zwang, sich dauernd alles zu erzählen, steckt häufig der Wunsch, möglichst viel Zuspruch und Bestätigung zu bekommen und möglichen Enttäuschungen vorzubeugen. Die eigene Befindlichkeit und der aktuelle Beziehungsstatus werden so zum Dauerthema des Paars. Heraus kommt eine Meta-Liebe: Woran sind die letzten Beziehungen gescheitert? Was müssen wir tun, damit es bei uns anders wird? Wie oft uns sehen? Und was sind noch mal deine Komplexe? Wo genau liegt dein wunder Punkt? Schau mal, wenn ich da jetzt so draufdrücke, tut das dann weh? Und was denkst du eigentlich gerade?

Man möchte diesen Paaren ein paar Königsberger Klopse in die Münder schieben! Auf dass sie endlich still sind.

Wenn man jemanden liebe, schreibt Max Frisch, halte man ihn in der Schwebe

Einer hat genau das getan wenn auch auf dezentere Weise: Max Frisch schrieb in den späten 1940er Jahren eine kurze Abhandlung in sein Tagebuch, die man eigentlich jedem Menschen zu Beginn seiner Beziehungsbiografie in die Hand drücken sollte. Der Text »Du sollst dir kein Bildnis machen« ist keine direkte Aufforderung, den Partner anzulügen, feiert jedoch das Nichtwissen. »Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei«, heißt es da. Wenn man jemanden liebe, schreibt Frisch, halte man ihn in der Schwebe. Man maße sich nicht an, sich ein abschließendes Bild von ihm zu machen, in das er passen soll und aus dem er in der Folge nicht mehr ausbrechen darf. Stattdessen gestatte man ihm, unfertig zu bleiben, und verspreche ihm gleichzeitig, ihn in all dem, was er heute ist und morgen sein wird, zu begleiten.

Harter Tobak. Königsdisziplin Liebe.

Heute hält man den Partner nicht mehr in der Schwebe, sondern nimmt ihn fest an der Hand. Wir feiern nicht mehr das Unfertige, die Unschärfe oder den wagemutigen Alleingang des Partners, sondern wollen mit ihm ein Team bilden. Der Teamgedanke besagt: Wir sind eine Mannschaft, wir müssen immer wissen, wohin der andere gerade läuft, was er damit bezweckt, wie sich alles am Ende zu einem großen Ganzen fügen soll. Sonst funktionieren wir nicht. Sonst verlieren wir das Spiel also uns! Alles, was wir nicht voneinander wissen, jedes Geheimnis, jede Fantasie, jedes Abenteuer, schwächt das Team und ist ein Angriff auf unsere Gemeinschaft.

Ausgerechnet in der Liebe befolgen wir das achte Gebot

Das Paar am Nebentisch sieht sich offenbar ebenfalls als Mannschaft. Die Aufwärm- und Stretchingphase haben sie jetzt hinter sich gebracht. Statt ans Essen geht es jetzt ans Eingemachte. Thema: Fremdgehen. Ob sie das schon mal gemacht habe. Nein. Er gesteht: Ich schon. Und erklärt dann, wie die Affäre zustande kam und in welchem Zustand seine Beziehung damals war, was er dabei gefühlt und wieso er ihr, seiner aktuellen Liebe, seine vergangenen Fehltritte so lange verheimlicht hat. Je wortreicher er sich rechtfertigt, desto aufgebrachter zerrupft sie ihre Serviette.
Es gibt eine Sache, die wir in dem »Wir müssen reden«-Wahn komplett aus den Augen verloren haben: Wir reden mit unseren Partnern genauso wie mit unseren besten Freunden oder dem Therapeuten. Ausgerechnet in der Liebe befolgen wir das achte Gebot und machen unseren Partner damit ungefragt zum Beichtvater.

Liebe: »Was wollen Sie?« – »Ich will die Wahrheit« – »Sie können die Wahrheit doch gar nicht ertragen!« – Jack Nicholson zu Tom Cruise in »Eine Frage der Ehre« (1992)
»Was wollen Sie?« – »Ich will die Wahrheit« – »Sie können die Wahrheit doch gar nicht ertragen!« – Jack Nicholson zu Tom Cruise in »Eine Frage der Ehre« (1992)

Das soll nicht heißen, dass es in einer Beziehung nicht wichtig wäre, über Ängste, Bedürfnisse und Wünsche zu reden. »Echte Kommunikation« nennt die Paartherapeutin Lisa Fischbach diesen Austausch. »Echt« heißt jedoch nicht: »jeder Gedanke, der einem durch den Kopf schießt«. Es ist wichtig, zu begreifen, dass unterschiedliche Beziehungen auch unterschiedliche Formen von Offenheit erfordern. Konkret bedeutet das: Gerne dem Therapeuten von der eigenen Unsicherheit bezüglich des Körperfettanteils erzählen und sich selbst dabei zuhören. Gerne dem besten Freund oder der besten Freundin von vergangenen Missgeschicken und Katastrophen berichten, gemeinsam über die eigene Dummheit lachen und sich endlich mal entspannen.

Liebe aber braucht auch: Spannung, Geheimnis, Faszination. Und die lässt sich nicht durch eine Transparenzoffensive erzeugen. Wer seinem aktuellen Partner erzählt, wie scheiße er ehemalige Partner behandelt hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn danach der Gegenwartshaussegen schief hängt. Um sich gegen den »Alles-Preisgeben-Ansatz« zu wehren, sind in der Liebe deshalb gezielte Auslassungen, Schwindeleien, Halblügen und Nebelkerzen erlaubt. Der Psychologieprofessor Robert Feldman, der das Standardwerk »Lügner« geschrieben hat, hält es gar für unumgänglich, dem modernen Wahrheitshype hin und wieder etwas entgegenzusetzen. »Wer lügt, verhält sich häufig sozial geschickt«, sagt Feldman. Die Lüge sei fast immer ein Dienst am anderen, der sich besser fühlt, wenn er nicht in jeder Hinsicht komplett im Bilde ist. Und sie ist natürlich auch Teil einer jeden Verführung. Wer jemanden von sich überzeugen will, wird beim ersten Date bestimmt nicht die Abgründe seines Charakters thematisieren. Wieso muss er sie dann schonungslos auf den Tisch packen, sobald sich der andere ihm emotional geöffnet hat?

Am Nebentisch räumt die Bedienung endlich die Königsberger Klopse ab und bringt die Rechnung. Die beiden sehen hungrig aus, müde und bedrückt. Man möchte ihnen eine Karte für das Theaterstück »Wir lieben und wissen nichts« von Moritz Rinke in die Hand drücken, das derzeit in einigen Städten aufgeführt wird.

»Kann man zusammenbleiben, wenn man sich die Wahrheit sagt?«

Rinke hat die These von Max Frisch, dass man die Unwägbarkeit des anderen ertragen und genießen solle, zu einem zweistündigen Drama erweitert. Bei einem Wohnungstausch treffen zwei Paare mit sehr unterschiedlichen Beziehungskonzepten aufeinander und beginnen, diese zu hinterfragen. Das eine Paar, Sebastian und Hannah, diskutiert ununterbrochen miteinander, thematisiert mal ihren Seitensprung, mal seine verpatzte Karriere. Sie leben die moderne, hyperkommunikative Beziehung. Glücklich wirken sie aber nicht. Die beiden anderen, Roman und Magdalena, versuchen das Gegenteil. Das Motto ihrer Ehe: »Wenn wir nicht reden, trennen wir uns nicht.« Und: »Kann man zusammenbleiben, wenn man sich die Wahrheit sagt?«

Frage an den Autor des Stücks: Wie viel Ernst steckt in diesen Sätzen? Trotz aller Überhöhung viel, sagt Moritz Rinke: »Reden erzeugt Wiederholung. Und Wiederholung erzeugt Enge. Aber Menschen brauchen Abstände, trotz romantischer Versprechen.«

Vielleicht geht es am Ende also gar nicht um Wahrheit und Lüge, sondern eine ganze Nummer kleiner um den Wert der bewusst gesetzten Stille. In einer Zeit, in der unsere private Kommunikation transparenter ist als jemals zuvor, verdient die Liebe weniger Seelenstriptease und etwas mehr Schweigen. Nicht als Mauer, sondern als Grenze: Das bin ich, das ist meine Vergangenheit, mein Komplex, mein nächtliches Denkschleifenkarussell. Und das bist du, das sind deine alten Wunden und deine neuen Hoffnungen.

Der Teil des Innenlebens, der für das Bestehen der Beziehung wichtig ist, wird sich mit der Zeit vermutlich ohnehin offenbaren. Bis dahin hilft möglicherweise eine sehr einfache Grundformel, die man kaum im Tagebuch eines Dichters lesen oder in einem modernen Theater hören wird, die im Großen und Ganzen aber vermutlich doch stimmt: Mehr Klopse, weniger quatschen!

Dieser Text ist in der Ausgabe 03/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.