Wissen »Im Moment ist Schottland der schlecht gelaunte Untermieter«

  • von Fiona Weber-Steinhaus
Wissen: »Im Moment ist Schottland der schlecht gelaunte Untermieter«
Kirsty MacAlpine (26) arbeitet freiwillig als Koordinatorin der YES-Kampagne für den Glasgower Stadtteil Cathcart und Koordinatorin der LGBT-Gruppe. Außerhalb der Kampagne ist sie Mitarbeiterin im schottischen Parlament.

Am 18. September stimmen die schottischen Bürger darüber ab, ob Schottland weiterhin zu Großbritannien gehören oder ein unabhängiger Staat werden soll. Kirsty MacAlpine, 26, arbeitet freiwillig als Koordinatorin der Pro-Unabhängigskeits-Wahlkampagne. Im Interview erklärt sie, warum ihr die Unabhängigkeit so wichtig ist und was das mit ihrer Großmutter zu tun hat.

Kirsty, was ist dein Problem mit England?

Ich habe gar kein Problem mit England oder Engländern. Ich habe einzig ein Problem mit Westminster, dem britischen Parlament.

Warum?

Zum einen werden die Entscheidungen, die in Westminster getroffen werden, zum Großteil von den schottischen Abgeordneten abgelehnt. Die konservative Partei, die Tories, haben keine einzige Wahl in Schottland gewonnen, seitdem meine Oma das erste Mal in den Fünfzigern gewählt hat. Trotzdem waren sie seitdem fast immer an der Macht.

Naja, es gab seit 1945 immerhin sechs Mal einen Premierminister, welcher der Labour-Partei angehörte.

Das stimmt. Aber man muss sich mal anschauen: Schottland hat eigentlich immer durchgehend sozialdemokratisch gewählt. Die Wahlen werden fast immer von den Stimmen der Engländer entschieden, aufgrund des Wahlrechts. Dieses demokratische Defizit ist nicht nur ein Schwurbel im System, sondern ein Fehler – und Schottland stimmt jetzt darüber ab, dies zu ändern.

Ist es dann nicht eher ein Problem des Wahlrechts? Der Argumentation folgend kann jemand aus dem einen Wahlbezirk auch später in einem unabhängigen Schottland sagen: Mein Wahlkreisergebnis wird nicht in der Regierung Schottlands wiedergespielt.

Das glaube ich nicht. Außerdem gibt es in Schottland ja für das schottische Parlament bereits ein Verhältniswahlrecht.

Warum ist dir die Unabhängigkeit Schottlands so wichtig?

Es ist an der Zeit, dass Schottland für sich selbst entscheiden sollte. Im Moment sind wir eher der schlecht gelaunte Untermieter, wir wünschen uns, dass Sachen anders entschieden werden, wir haben das Gefühl, nicht genügend Einfluss zu haben. Also sollten wir einfach nebenan einziehen und selbst Verantwortung für uns übernehmen.

Wie kamst du zu der Überzeugung?

Wissen: »Im Moment ist Schottland der schlecht gelaunte Untermieter«

Witzigerweise, als ich auf einem Uniaustausch in Kanada war. Jeder Dritte erzählte mir: »Ah, du kommst aus Schottland! Ich auch! Meine Familie ist nach Kanada ausgewandert« oder »Meine Oma war Schottin«. Die Leute kannten die ehemaligen Heimatdörfer, manchmal 10-Seelen-Gemeinden in den Highlands. Ich fand es toll und gleichzeitig verrückt, dass soviele Leute sich meiner Heimat verbunden fühlten und stolz auf ihre schottischen Wurzeln waren. Ich dachte darüber nach, womit ich mich identifizieren kann – es waren vor allem politische Entscheidungen, die in den Bereich von Holyrood, dem schottischen Parlament fallen, wie zum Beispiel, dass in Schottland keine Studiengebühren für den ersten Hochschulabschluss anfallen. Vieles, womit ich mich nicht identifizieren kann, wird in Westminster, dem britischen Parlament entschieden – zum Beispiel die Finanzen oder Außenpolitik. Seitdem bin ich überzeugt, dass Schottland am besten seine eigenen Entscheidungen fällen sollte – wie fast jede Nation der Welt.

Dabei ist Bildung in Großbritannien sowieso föderal organisiert und fällt auch ohne Unabhängigkeit in den Bereich des schottischen Parlaments.

Stimmt, auf dem Papier ist es föderal organisiert, aber die Realität sieht anders aus. Die föderale Struktur erlaubt es nicht, dass das schottische Parlament bei Finanzen, Außenpolitik und Immigration mitbestimmt – das heißt, Schottland kann zum Beispiel nicht über Studentenvisa oder Immigrationfragen entscheiden, wenn zum Beispiel ein Student nach seinem Studium in Schottland bleiben will. Für mich gehört das zusammen.

Schottland müsste sich neu als EU-Mitgliedsstaat bewerben. Viele sorgen sich um vermehrte Bürokratie, andere um die Wirtschaft. Was denkst du darüber?

Das sind Angstmachtaktiken der »Better Together«-Kampagne, die dafür plädiert, dass Schottland im Vereinigten Königreich bleiben soll. Es sind schon andere Staaten vor Schottland unabhängig geworden, in den letzten siebzig Jahren waren es über 150. Auch unabhängige Staaten sind Mitglied der Europäischen Union geworden.

Allerdings ist Schottland das erste Land, das bereits Teil der Europäischen Union ist und sich dann noch einmal als unabhängiger Staat bewerben müsste.

Ich bin dafür, dass Schottland in der Europäischen Union bleibt. Wir müssen natürlich die Fakten durchsprechen so wie viele andere Staaten vor uns, die unabhängig geworden sind. Außerdem würden wir ja nicht sofort nach dem Referendum unabhängig werden. Zwischen dem Referendum und der möglichen Unabhängigkeit liegen sowieso achtzehn Monate. In anderthalb Jahren können zumindest einige der Fragen beantwortet und Probleme gelöst werden.

Du arbeitest seit 2012 bei der Kampagne mit, hast Flugblätter verteilt, bist von Haus zu Haus gegangen, hast bei Podiumsdiskussionen gesprochen. Wie haben sich die Reaktionen der Leute im Laufe der Zeit verändert?

Oh, sehr! Ganz am Anfang wussten wir ja nicht einmal, wann das Referendum überhaupt stattfinden würde. Damals haben wir hauptsächlich die Bürger informiert, was eine Unabhängigkeit überhaupt beinhalten würde. Im vergangenen Jahr haben wir dann vor allem mit Wählern diskutiert. Einige Leute, die sagten, dass sie sich sonst eher von der Poltik abgehängt fühlen, waren total interessiert. Das war fantastisch. Vor ein paar Wochen zum Beispiel kam ein alter Mann mit dem Taxi ins Wahlbüro, um sich rechtzeitig zu registrieren. Er wollte unbedingt seine Stimme abgeben und die Frist auf keinen Fall verpassen.

Was machst du als Allererstes am 18. September?

Erstmal einen Tee trinken. Ich muss um fünf Uhr morgens aufstehen, und dann pünktlich um sechs Uhr morgens beim Wahlbüro sein.

Und was tust du, wenn es nicht klappt?

Dann weine ich wahrscheinlich in meinen Gin. Und danach werde ich mich dafür engagieren, dass zumindest die Rechte und Mitspracherechte der Schotten in Westminster sich vergrößern.