Wissen Der Quer-Linker

Wissen: Der Quer-Linker
Dieser Text ist in der März-Ausgabe erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.

Am heutigen Dienstag wurde in Berlin die re:publica 14 eröffnet, die wichtigste deutsche Konferenz zu Themen wie Big Data, 3-D-Druckern und Life Hacking (oder Live Hacking). In Dutzenden Workshops wird demonstriert und kritisiert, wie Technologie revolutioniert, jeden Tag ein bisschen mehr. Einen der interessantesten Vorträge hielt wie üblich der Netz-Querdenker Evgeny Morozov, den wir in der März-Ausgabe von NEON porträtiert haben. Der Titel: »Im Zweifel für den Zweifel!« Was das heißen soll? Weder Edward Snowden noch Google-Chef Sergej Brin sind wahre Helden. Wir brauchen mehr Mut zur Grau-Malerei!

Man muss nicht lange mit Evgeny Morozov reden, um zu merken, dass er wirklich gern motzt. Morozov, Betonung auf dem zweiten o, weißrussisches Wunderkind, Doktorand der Wissenschaftsgeschichte in Harvard, Bestsellerautor und selbsternannter Beauftragter für die Entlarvung von »Internetzentrismus und anderem Bullshit«, sitzt an einem regnerischen Vormittag im plüschigen Foyer des Münchner Hotels Königshof. Er ist hier, um über die wachsende Macht der Digitalindustrie zu reden, das Thema, das er auf 600 Seiten in seinem aktuellen Buch »Smarte neue Welt« bearbeitet hat.

Morozov hat sich soeben einen 7-Euro- Cappuccino auf einem vergoldeten Tablett kommen lassen, das Gespräch ist noch in der Smalltalkphase. Er kommt gerade von einem »Festival für gefährliche Ideen« in Sydney und motzt in einem Nebensatz, »dass die Ideen dort nicht gerade gefährlich gewesen sind«, überhaupt, motzt er, könne er nicht verstehen, dass Leute bereit seien, tausende Dollar auszugeben, um an Ideenkonferenzen teilzunehmen, er persönlich gucke sich langweilige Vortragsvideos lieber zu Hause an, wo er noch etwas anderes nebenbei erledigen könne, zum Beispiel Sport treiben oder was lesen.

Evgeny Morozov ist erst 29 Jahre alt, gilt aber schon als der große alte Grantler der Technologiedebatte.

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Wenn irgendetwas in der sogenannten Netzgemeinde als Errungenschaft gefeiert wird, zum Beispiel eine intelligente Gabel, die den Nutzer beim Essen bremst, oder das Konzept des Life-Hacking, dann kann man sich ziemlich sicher sein, dass Morozov schon einen Text darüber geschrieben oder einen Vortrag gehalten hat, was daran problematisch, gefährlich oder einfach nur, um sein Lieblingsschimpfwort zu zitieren, Bullshit ist. Seine Artikel tragen Überschriften wie »Warum man das Silicon Valley hassen darf«, »Impfung der Idioten« oder »Die Tyrannei der Algorithmen«.

Teufelsmaschine oder superfantastische Innovationsmaschine? Weder noch! Sowohl als auch!

Öffentliche Meinungen zu digitaler Kultur kommen fast immer aus zwei Lagern: Für Netzophobe ist das Internet eine Teufelsmaschine, die Gehirne und Umgangsformen der Menschheit systematisch ruiniert. Für Netzophile ist es eine superfantastische Innovationsmaschine, von der die Menschheit nur lernen kann. Die öffentlichen Meinungen von Evgeny Morozov sind schon deshalb interessant, weil sie mit seiner eigenen Mischung aus Gemecker, Humor, Belesenheit und extremer Aggression geschrieben sind, aber was ihn am meisten ausmacht, ist, dass er von der Frage, ob das Internet Fluch oder Segen ist, gar nichts wissen will. Er will, dass wir anders über das Internet denken und sprechen. Nämlich so, als wäre es gar nicht da.

Wenn Morozov twittert, einen seiner langen Texte schreibt oder in entlegenen Ecken der Welt auf überflüssigen Konferenzen spricht, geht es immer darum: um die Abschaffung dessen, was er »Internetzentrismus« nennt. Als ihm ein Follower ein frohes neues Jahr wünschte, antwortete er: »Das neue Jahr existiert ebenso wenig wie das Internet.« Morozov meint: Wir reden über die falschen Dinge, wenn wir über das Internet sprechen. Wir sagen Räume, wo es eigentlich um Kabelverbindungen geht. Wir reden von Nachrichten, die wir teilen, statt von Daten, die wir preisgeben. Wir philosophieren über Netzakteure, statt uns Bürger, Unternehmen und Politiker vorzustellen. Wir tun so, als gäbe es eine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, die sich online aufhält und der es hauptsächlich um freizeitlichen Austausch geht. In Wahrheit, sagt Morozov, nutzt jeder die Struktur des Internets zu irgendetwas: um Meinung zu machen, um Geld zu verdienen, um sich politisch zu organisieren. Das Internet selbst sei weder eine Waffe noch eine eigene Welt – es sei einfach nur eine weitere Ebene, auf der die gleichen gesellschaftlichen Prozesse stattfinden wie überall anders auch.

Die Technologieindustrie ist nicht anders als die die Ölindustrie

Die Technologieindustrie verbreite einen Mythos über sich selbst, sagt Morozov: den Mythos, dass sie anders sei als die Ölindustrie, die Pharmaindustrie oder die Autoindustrie. Dass es ihr um eine Verbesserung der Welt gehe und nicht vor allem darum, das zu tun, was Industrien tun – Ressourcen besetzen, Produkte verkaufen und Umsatz machen. Wir nutzen Dienstleister wie Google oder Facebook so, wie man öffentliche Einrichtungen nutzt – es gibt kaum eine Organisation oder einen Bürger, der sich nicht über die großen Seiten informiert und vernetzt. Wir nutzen Apps und intelligente Geräte, die uns vorrechnen, wie viele Schritte wir am Tag idealerweise gehen oder wo wir jemanden treffen können, der an schnellem Sex interessiert ist. Wir nutzen diese Technologien so, als wären sie öffentliche Güter wie Gehwege oder Parks, für alle offen. Doch für den Service bezahlen wir: mit den Daten, die wir überall hinterlassen. Wir geraten in Gefahr, die Kontrolle zu verlieren, sagt Morozov, und dass wir deshalb nicht nur ein klares Verhältnis zu unseren Daten brauchen, sondern auch zu der Wirtschaft, die mit ihnen handelt.

Morozovs eigenes Verhältnis zur digitalen Technologie kann man als enttäuschte große Liebe bezeichnen. Er grinst schief: »Ich war ein engagierter Blogger«, sagt er, »yeah, ich war ein Evangelist – bis ich auf die dunkle Seite gegangen bin.« Morozov wuchs in Salihorsk auf, einer kleinen Bergarbeiterstadt mitten in Weißrussland. Die Stadt wurde erst vor etwa fünfzig Jahren gebaut, nachdem dort Kalium gefunden worden war, das man zum Beispiel zum Düngen braucht. »Die Stadt besteht praktisch nur aus Fremden, die zum Arbeiten gekommen sind«, sagt Morozov. »Man kann unter einem Regime wie dem weißrussischen nicht leben, ohne ein politisches Bewusstsein zu haben. Aber die Verwurzelung, die man für politischen Aktivismus braucht, gibt es in Salihorsk nicht.« Das Kind Evgeny fasste früh den Plan, so schnell wie möglich woanders hinzugehen.

Sein Weg: Investmentbanker, Aktivist, Ketzer

Für einen begabten Schüler war Bildung der beste Weg. Mit siebzehn bekam Evgeny ein Stipendium der Open-Society-Foundations und ging zum Studium an die American University in Bulgarien, wo er, wie es sich für einen osteuropäischen Elitestudenten gehörte, Betriebswirtschaftslehre studierte. Er war, sagt er, auf der Schnellstraße zum großen Geld, doch dann machte er ein Praktikum bei der Investmentbank J.P. Morgan. Der Arbeitsalltag, die Stimmung, die ganze Branche: »Es war grauenhaft. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen wollte, aber ich wusste: Das ist es nicht.« Morozov zog für ein Philosophiestudium nach Berlin und begann, für eine NGO zu arbeiten. Als Beauftragter für Neue Medien setzte er sich für Internetfreiheit in autoritären Regimes ein, er sagt über diese Zeit: »Ich habe absolut an das Potenzial von Blogs und Bürgerjournalismus geglaubt.« Doch die Realität widersprach seinen Erwartungen: »Wir gaben so viel Geld für Technik aus, aber irgendwann mussten wir feststellen, dass auch Diktatoren lernen können, mit Browsern und Quellcodes umzugehen. Um Menschen für den Widerstand zu mobilisieren, gibt es Wichtigeres als eine Blogosphäre. « Morozov gab seinen Job auf und veröffentlichte mit 26 sein erstes Buch, den Grundstein für seine Karriere als Ketzer. »The Net Delusion « war ein öffentlichkeitswirksamer Angriff auf die Thesen des populären US-amerikanischen Internettheoretikers Clay Shirky, der revolutionäre Bewegungen wie den arabischen Frühling zur »Twitter-Revolution« erklärt hatte. Moderne Vernetzungstechnologien seien nur verschwindend beteiligt an der politischen Entwicklung eines Landes, schrieb Morozov dagegen, und sie seien für Aktivisten oft sogar hochgefährlich. Schließlich wisse auch der ägyptische Geheimdienst, wie man Tweets oder Blogs lese: »Informationen, die Regimes früher aus den Leuten herausfoltern mussten, sind jetzt auf Facebook oder Twitter frei verfügbar. « Wenn Organisationen oder Politiker die Freiheit des Internets forderten, dann gehe es vor allem darum, Zugang zu weltweiten Daten für Unternehmen zu schaffen. »Ich weiß überhaupt nicht, was das Wort Internetfreiheit bedeuten soll! Reden wir über Pharmafreiheit, oder Ölfreiheit?«

Morozov meint: Wer erreichen wolle, dass alle Menschen sich vernetzen und informieren dürfen, solle nicht nach mehr Technik rufen, sondern für Versammlungs- und Pressefreiheit kämpfen. Wer die staatliche Überwachung von Datenverkehr verhindern wolle, müsse sagen, wie er sich eine Gesellschaftsordnung vorstelle, in der sich der Staat nicht gegen potenzielle Feinde absichert.

Man muss nicht lieben, um zu brauchen

Von daher empfindet Morozov nicht nur Bewunderung für den NSA-Whistleblower Edward Snowden: »Für mich reicht es nicht, dass er sich für digitale Freiheit einsetzen will. Was will er denn noch?« Amerikanische Demokratisierungspolitik wirke seit Snowdens Enthüllungen unglaubwürdiger denn je, obwohl sie im Kern immer noch richtig sei. Im Namen der Internetfreiheit, sagt Morozov, sei wichtige Arbeit des US-Außenministeriums – zum Beispiel der Einsatz für Bürgerrechte in Russland – fast zum Stillstand gekommen. Ein Ende staatlicher Aufsicht bedeutet für Morozov einen Sieg der IT-Unternehmen und damit einen Sieg der Marktwirtschaft. »Wie alle anderen Industrien träumen diese Unternehmen davon, alles machen zu dürfen, was sie wollen. « Die Frage, die auch Morozov dabei nicht aus der Welt schaffen kann, ist, ob es staatlichen Überwachungsorganen nicht ganz ähnlich geht.

Irgendwann bimmelt es im Hotelfoyer aus Morozovs Tasche. Mitten im Satz erinnert ihn sein iPhone daran, dass er ab jetzt erreichbar sein muss. Morozov schaut sein Display streng an, überlegt kurz und lehnt sich wieder zurück. »Ich muss gleich los«, sagt er und wirkt zum ersten Mal leicht unkonzentriert. Am Ende ist es mit dem Menschen und der Technik so wie mit jeder anderen Beziehung auch: Man muss nicht lieben, um zu brauchen.