Text: Charlotte Schiller | Illustration: Jan Robert Dünnweller
Es ist immer ärgerlich, wenn man erst um 22 Uhr aus dem Büro kommt. An einem Abend während meiner Zeit als Personalchefin in einem Großkonzern aber machte ich eine besonders verstörende Erfahrung. Ich lief müde und genervt den Flur zum Aufzug hinunter, als ich in einem benachbarten Büro ein seltsames Geräusch hörte, ein Knarzen und Wimmern. Aus irgendeinem Grund dachte ich zunächst, dass ein Hund im Zimmer gefangen war, der jetzt verzweifelt an der Tür kratzte. Ohne groß weiter nachzudenken, riss ich die Tür auf – dann brauchte mein Gehirn eine Weile, bis es die Informationen verarbeitet hatte, die auf meine Netzhaut trafen: Mann sitzt auf Schreibtisch und dreht mir den Rücken zu. Mann trägt ein Hemd. Mann trägt aber keine Hose, denn das Blasse, Weiße da ist doch wohl sein Arsch. Dann wachsen dem Mann plötzlich kleine, zarte Hände auf dem Rücken. Frau taucht hinter der Männerschulter auf. Frau hat blonde, zerzauste Haare und: »TANJA, WAS MACHST DU DENN DA?«
Am nächsten Morgen kam Tanja in mein Büro. Tanja war ein wenig nervös, schließlich musste sie ihrer Vorgesetzten ihr Verhalten erklären. Andererseits musste sie auch die ganze Zeit grinsen. Der Mann, erfuhr ich, arbeitete in der Rechtsabteilung und hieß Matthias. Als Bereichsleiterin im Personalwesen war Tanja seine Vorgesetzte. »Wir sehen uns seit einem Monat«, erzählte Tanja. »Ich mag ihn wirklich sehr. Ich glaube, das ist jetzt mein Freund.« Die Karrierefrau Tanja wollte sich bei mir entschuldigen, die Frau Tanja wollte von mir wissen, was sie jetzt tun solle.
Die Büroliebe ist ein Problem, obwohl sie kein Problem sein sollte. Zwar versuchen amerikanische Konzerne immer wieder, Teeküchen-Techtelmechtel arbeitsrechtlich zu verbieten. In Deutschland ist die Partnerwahl allerdings durch das Persönlichkeitsrecht geschützt – laut Bundesurlaubsgesetz muss der Arbeitgeber Rücksicht auf die gemeinsamen Urlaubspläne von Büropaaren nehmen.
Ich riet Tanja trotzdem, die Beziehung noch ein paar Wochen geheim zu halten. Erst nach zwei Monaten weiß man, ob aus einer Affäre wirklich mehr werden soll. Und bevor man das nicht weiß, braucht man die Kollegen, die eh mit dem Informationsoverkill kämpfen, nicht mit dem Beziehungsstatus belästigen. Tanja und Matthias wurden ein Paar – und verhielten sich professionell, sie knutschten nicht rum und klärten Beziehungsstress außerhalb des Büros.
Es ist kein Wunder, dass sich viele Menschen am Arbeitsplatz verlieben. Man trifft dort viele gleichaltrige Menschen mit ähnlichen Interessen, und wenn jemand selbstbewusst auftritt und Krisen lässig meistert, kann das sehr sexy sein. Ich glaube an die Produktivkraft der Liebe: Viele geben sich im Büro nur deshalb so viel Mühe, weil sie einen Menschen beeindrucken wollen, den sie schön finden.
Tanja und Matthias wünschten sich in der Folgezeit trotzdem, dass sie ihre Beziehung geheim gehalten hätten. Die Kollegen zerrissen sich das Maul, nicht aus Neid oder Häme, sondern weil in einer Firma wenig los und Klatsch immer willkommen ist. Als Matthias um eine Gehaltserhöhung bat, entgegnete der Abteilungsleiter, er solle das doch mit seiner Freundin besprechen. Und als Tanja in einem Meeting die Performance der Rechtsabteilung bewerten sollte, kicherten die Kollegen wie doofe Erstklässler. Tanja und Matthias beschlossen, dass er die Firma verlässt (sie hatte die attraktivere Stelle). Die beiden sind zusammen und glücklich. »Vernünftiger so«, meinte Tanja später zu mir, »aber ich vermisse die Zeit, in der ich Matthias einfach per Telefon in mein Büro ordern konnte.«
Dieser Text ist in der Ausgabe 05/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.