Wissen Einstellungssache: Schwere Aufgabe

Wissen: Einstellungssache: Schwere Aufgabe
Marie ist schön, smart und hat Kleidergröße 44. Kein Grund sich vor dem großen Auftritt zu fürchten. Oder?

Text: Charlotte Schiller | Illustration: Jan Robert Dünnweller

Marie kam ganz leise zur Tür herein, es waren fast keine Schritte zu hören, und als sie sich langsam und vorsichtig in den altersschwachen Bürostuhl mir gegenüber setzte, quietschte der zum ersten Mal seit Jahren kein bisschen. Dabei war Marie nicht eben leicht, sondern groß, rundlich, etwa Kleidergröße 44. Das, was man Vollweib nennt, wenn man schönen Menschen, die ein wenig dicker sind als die Katalogmodels, ein Kompliment machen will. Als ich Marie fragte, warum sie einen Coach aufsuche, antwortete sie: »Ich muss lernen, sicher in der Öffentlichkeit aufzutreten. Ich schwitze schon, wenn ich in der Kantine bestelle.«

Die Angst vor dem öffentlichen Auftritt ist lästig. Besonders wenn man, wie Marie, in der Marketingabteilung einer Softwarefirma arbeitet und den Kunden regelmäßig die neueste Buchhaltungssoftware präsentieren muss. Vor solchen Terminen ging Marie durch die Hölle: Panik, Schlafstörungen, Atemnot. Während der Präsentationen war ­Marie unkonzentriert, redete viel zu schnell oder viel zu leise und brach im Dialog mit einem chinesischen Kunden mal in einen hysterischen Lachanfall aus. Kurz darauf schickte ihre Vorgesetzte sie zum Coaching.

Marie litt unter Versagensangst. Aber warum bloß? Sie galt als kompetente Mitarbeiterin und hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch schnell Karriere gemacht. »Kennen Sie ­dieses Gefühl von irgendwoher?« Oftmals haben meine Klienten dann eine spontane Assoziation, die meist gar nichts mit dem Büro-Setting zu tun hat, sondern aus einer ganz anderen Lebensphase stammt: der Kindheit. Bei Marie war es, so stellte sich schnell heraus, der Tag der Einschulung. Sie hatte sich damals hübsch gefühlt, mit ihrem neuen Kleid, den Zöpfen und der roten Schultüte mit den vielen bunten Herzen darauf. Ihre Mutter wollte ein Foto machen. Marie strahlte und wartete auf das Kameraklicken. Und hörte, wie einer der neuen Klassenkameraden rief: »Guck mal, die Fette da!« Im Grunde war Marie nie über diesen Moment hinweggekommen. Bei jeder Präsentation überlegte sie sich, was die Zuhörer wohl von ihr dachten. Und sie war sich ziemlich sicher, dass der Gedanke lautete: »Guck mal, die Fette da!«

Ich wollte Marie keine Diät verordnen. Ich bin keine Ärz­­tin oder Ernährungsberaterin – außerdem hätte das auch nichts gebracht. Mir ging es darum, Auftreten und Rhetorik zu verbessern und gleichzeitig Maries Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Ich ging mit ihr essen und zwang sie dazu, ihr Gericht beim Restaurantbesitzer zu reklamieren. Ich stellte sie vor den großen Spiegel, der in meinem Zimmer hängt, und ließ sie aufsagen, was sie genau sah und wie man dieses Bild möglichst positiv beschreiben konnte: »Prachtarsch« statt »Fettarsch« zum Beispiel. Ich empfahl ihr, einen Tanzkurs zu buchen, weil sie mir gesagt hatte, dass sie sich beim Tanzen wohl in ihrem Körper fühlt.

Außerdem ließ ich Marie in meinem Büro endlos Vorträge halten und nahm sie dabei auf Video auf, um ihr zu zeigen, dass man da eben keine schwabbelige Kuh sieht, sondern eine attraktive und starke junge Frau. Nach acht Wochen sagte ich zu ihr: »Ich glaube, es geht Ihnen besser.«

Ich habe dann lange nichts mehr von Marie gehört, was entweder ein sehr gutes oder sehr schlechtes Zeichen ist. Vor einiger Zeit schickte sie mir dann eine Postkarte aus Griechenland. Marie war dort auf einer Hochzeit gewesen. Sie schrieb mir: »Sie werden nicht glauben, was passiert ist. Ich habe spontan eine Rede gehalten, vor 200 Leuten und auf Englisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Braut an diesem Abend glücklicher war als ich.«

Dieser Text ist in der Ausgabe 12/14 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.