Text: Charlotte Schiller | Illustration: Jan Robert Dünnweller
Als mich Florian Kuhn in einer E-Mail »Johanna« nannte, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Offensichtlich hatte er mich mit seiner Steuerberaterin verwechselt, angehängt war auch ein Handyfoto der vierten Mahnung des Finanzamts. Der Text war voller Tippfehler. Mein Blick fiel noch auf die »Gesendet am«-Info: 04:12 Uhr. Als ich Kuhn auf die Mail ansprach, raunzte er, ich solle das Dokument sofort löschen. Und: »Ganz normal. Wenn ich nachts wach liege, kann ich ja gleich arbeiten.«
Ich hatte Florian Kuhn bereits zwei Jahre lang als Coach beraten. In dieser Zeit war er mir als Mann aufgefallen, der seinen Job, seine Familie, sein Leben im Griff hatte. 34 Jahre alt, dritte Managementebene bei einem schwäbischen Weltmarktführer, Vorsitzender des lokalen Fußballvereins. Ein liebevoller Vater zweier Töchter, der kein Geigenkonzert und keine Schultheateraufführung verpasste. Viele meiner Klienten überlegen sich erst im Auto auf dem Weg zu mir, was sie eigentlich besprechen wollen. Florian Kuhn kam immer bestens vorbereitet, bat mich um weiterführende Literatur und schickte regelmäßig Memos, in denen er die »Learnings« unserer Sitzung zusammenfasste und fragte, ob er denn etwas vergessen habe. Hatte er nie.
Aber Kuhn hatte sich stark verändert, wirkte fahrig und kraftlos. Er hatte die Weihnachtsfeier seiner Abteilung abgesagt (»Keine Lust auf die Gemeinschaftssauferei«) und war einmal mitten in einer Sitzung aus dem Raum gestürmt. Ich war alarmiert: Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und emotionale Erschöpfung sind typische Anzeichen eines Burn-outs. Bei der nächsten Sitzung gab ich Kuhn deshalb einen Burn-out-Test, wie man ihn einfach im Internet findet. Er füllte das Blatt widerwillig aus – und erreichte fast die Maximalpunktzahl. Nur weil er die Frage, ob er wegen der Arbeit sein Bedürfnis unterdrücke, auf die Toilette zu gehen, nur mit »manchmal« statt mit »oft oder sehr oft« beantwortete, verfehlte er den Highscore. Kuhn war eben selbst in der Überforderung ein Perfektionist. Als ich ihm das Ergebnis mitteilte, fing er an zu weinen und legte sich auf den Boden. Zwischen zwei Schluchzern hörte ich den Satz: »Hoffentlich gibt es mich bald nicht mehr.« Da wusste ich, dass Kuhn jetzt keinen Businesscoach mehr brauchte. Ich packte ihn in mein Auto und brachte ihn in die psychiatrische Ambulanz.
Das Thema Burn-out ist in den Medien so präsent, dass manche schon mit den Augen rollen und über eingebildete Berufskranke sprechen. Ich finde, dass wir uns im Gegenteil noch viel mehr mit den Folgen von Stress beschäftigen müssen. Betroffen sind ja häufig Menschen, die vordergründig alles im Griff haben, die erfolgreich sind und sozial eingebunden, die alles können, außer zuzugeben, dass auch sie Schwächen, Zweifel und Nerven haben. Zu viele Leute glauben immer noch, dass man gleich gefeuert wird, wenn man zu seinem Vorgesetzten geht und sagt: »Ich muss mal kürzertreten. Ich habe Angst, dass ich in einen Burnout reinrutsche.« Aber man muss sich dafür nicht mehr schämen. Das ist ein großer Fortschritt.
Auch Florian Kuhn konnte nach drei Monaten in der Klinik wieder in seine Firma, er arbeitet heute allerdings in einer anderen Abteilung. Er kommt weiterhin zu mir und kann über sein altes Übereifer-Ich nur lachen. Und darüber, dass er auch in der Psychiatrie zunächst alle Aufgaben an sich gerissen hatte: Essensausgabe, Gruppensprecher, Leitung der Jogginggruppe. Die Ärzte haben ihn dann gezwungen, eine Stunde am Tag auf eine weiße Wand zu starren. Kuhn sagt, das sei seine Rettung gewesen.
Dieser Text ist in der Ausgabe 03/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.