Die Privatwohnung ist das Politische – in den Studentenstädten wohnen Erstsemester in abgefuckten Containern, in Berlin gehen die Menschen gegen Immobilienhaie auf die Straße und die große Koalition stellt als erste Amtshandlung ein »Paket für bezahlbares Wohnen« vor. Kein Wunder, dass die NEON-Community den Fall meines miesen Mitbewohners D., der keine Miete zahlt, die Wohnung vermüllt und dann am Ende ein Empfehlungsschreiben für seinen neuen Vermieter in New York verlangt, erregt diskutierte. Das moralische Dilemma – Was wiegt schwerer? Die Loyalität zu einem ehemaligen Kumpel oder die Verpflichtung zu wahrheitsgemäßer Auskunft? – wurde auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet:
Nicht wenige Nutzer zweifelten an meinem Geisteszustand und der Wohnsituation bzw. Motivation: Während sich Magnus wunderte, dass es in besagter Wohnung überhaupt einen Weinkeller« gebe, der von D. regelmäßig leergetrunken werden konnte (Anmerkung des Autors: Metapher!!), stellte yuhi knallhart fest: »die große frage ist ja eher, warum er nicht schon in wg zeiten da längst mal was gesagt hat.« FrauKopf wollte wissen: »Warum hast du nicht viel früher auf den Tisch gehauen?« chrisbow fragte wortreich: »Gehst du Konflikten aus dem Weg?« Und yuhi setzte noch mal nach: »ich hab ja die dumpfe vermutung, dass der autor seinen ex mitbewohner nur so toll findet aufgrund dessen ach so interessanten lebens (…) und freunde.«
Alles valide Fragen und Punkte. Aber interessanter als der Fragestellende ist ja dann doch oft die Frage.
HerrJemine schrieb empört: »am arsch hängt der hammer! ich glaub, es hackt?!«. Und Grumpelstilzchen meinte: »Ich will auf der Stelle wissen, wie so ein dummer Spasti es gepackt hat, nach New York zu kommen. Was soll das?« Diese Fraktion der Nutzer, nennen wir sie Aggros, sparte mit konkreten Handlungsanweisungen, aber vermutlich darf man davon ausgehen, dass die Interessen meines miesen Mitbewohners D. nicht besonders weit oben auf ihrer Prioriätenliste stehen; frei nach EliasRafael: »Mein Pappierkorb ist voll von solchen Anfragen. Einfach ignorieren.«
Wesentlich sanfter argumentierte die Nutzerin beccilein, die schrieb: »Gib ihm die Chance, zu zeigen, dass er sich geändert hat.« Auch Fieseise würde lügen, um dem Ex-Mitbewohner den Neustart in New York nicht zu erschweren. Hier zeigte sich die Community unentschlossen, wie man die Bibel auslegen solle: Währen beccilein und Fieseise offenbar eher im Neuen Testament blättern (Halte auch die andere Backe hin!), zitierten andere die Zehn Gebote und das Auge um Auge-Prinzip.derHerrmitdemPixel: »Aber… aber… Rache!?«. See_Emm_Why_Kay: »Ich würde es einfach ganz umgehen und ihm diesen Fragebogen niemals zurückschicken. Immer mal wieder mit anderen Ausreden. (…) Manches löst sich doch am Besten durch Passivität.«
Die Verwirrung bringt Mrs.McH auf den Punkt: »Ich würde wahrscheinlich auch tendenziell helfen wollen, aber Lügen würde ich nicht solange es nicht um Leben oder Tod geht.« Da es aber sicher nicht um Leben oder Tod geht, sondern höchstens um Mieten oder Eigentum, setzte sich die Gruppe um KateKnox durch, die meinte, besagter Mitbewohner solle sich »jemand anderes suchen, der für ihn das Blaue vom Himmel lügt.«
Nur wenige Nutzer wollten das Problem auf so spritzig-witzige Art und Weise lösen wie Mireeey: »Erstmal ein Bier aufmachen und aus dem Fragebogen nen Papierflieger basteln.«
Stattdessen äußerte sich der sozialpädagogische Flügel der NEON-Community, die das Verhalten meines miesen Mitbewohners D. zwar missbilligte, den Fokus aber auf D.’s Resozialisierung legte. SirMCPedta schlug folgende Strategie vor: »sende einen Fragebogen an D, wie er sich wohl selber einschätzen würde. Erst wenn er das, ganz real und ehrlich zu sich selbst und ehrlich zu Dir getan hat, könntest Du ja eventuell eine positive Ausstellung des Fragebogens in Aussicht stellen (…)« Auch annablume_13 und sophia_ würden ihren miesen Ex-Mitbewohnern unter Auflagen helfen, etwas, wenn sie versprechen, dass sie »endlich sauberer und pflichtbewusster werden«.
DAS URTEIL:
Vor dem Gesetz mögen alle Menschen gleich sein. Trotzdem hätte derHerrmitdemPixel mehr Nachsicht mit einem »schlonziger Verpeiler« als einem »faulen Arsch«. Cyro bevorzugt ne »Type aus der Region« gegenüber »jemand der um die Welt jettet« – ganz frei von ästhetisch-klassenkämpferischen Impulsen scheint das Gericht nicht. Eine Auszählung der Stimmen ergibt folgendes Ergebnis (ohne Gewähr): ca. 20 Prozent der Stimmen müssen als Enthaltung gezählt werden, da sich die entsprechenden Nutzer ambivalent äußern, das Thema verfehlen oder wie zum Beispiel forst das Crowdsourcing-Prinzip selbst anzweifeln bzw. wie miss_mel auf weiterführende Sekundärliteratur verweisen. Gut 25 Prozent würden dem miesen Mietbewohner – oft unter strengen Auflagen – trotzdem helfen. 55 Prozent der Nutzer würden ihrem ehemaligen Mitbewohner nicht mit einem Empfehlungsschreiben weiterhelfen. Die Begründungen unterscheiden sich teilweise recht deutlich: »Warum machst du dir soviele Gedanken um ihn ? Hat er sich Gedanken gemacht wie du dich als WG-Mitbewohner fühlst?«, fragtSambre. Laut Dalek ist man nicht dem Ex-Mitbewohner moralisch verpflichtet, sondern der Masse der Mieter und Wohnungssuchenden: Hilft man dem miesen Mitbewohner die neue Wohnung zu bekommen, »schaut ein anderer Wohnungssuchende ertsmal in die Röhre – einer der vielleicht wirklich ein mustergültiger Mieter ist.« Oder anders: In Zeiten der Wohnungsnot ist jede Handlung moralisch gerechtfertigt, die das Angebot an schönem und bezahlbaren Wohnraum erhöht.
Du hast auch einen Frage für die NEON-Community? Schick eine Frage an moorstedt.tobias@neon.de