Hamburg-Sankt Pauli. Mitte Juli 2017. Alles ist bunt, laut und überfüllt. Überall, wo man hinkommt, riecht es nach frischem Urin, Erbrochenem, Zigaretten und Unmengen von Alkohol. Den Tausenden von Menschen fällt das gar nicht auf. Wie auch? Sie sind am Feiern. Sie tanzen. Sie singen laut – und schief. Und wie es sich für deutsche Party-Veranstaltungen gehört, klatschen sie meistens komplett am Takt vorbei. Irgendwo in dieser Menge stehe auch ich und fange so langsam an zu realisieren, wo ich hier gelandet bin: auf dem Schlagermove.
Es ist die Hölle für jeden nüchternen Menschen. Genau deshalb fange ich an, einen Schluck aus meiner selbst gemachten Mische zu nehmen. Ich bin nämlich gerade dabei, wieder nüchtern zu werden. Bloß nicht! Ich kann das im normalen Zustand nicht ertragen. Ich setze gerade an, da bricht neben mir eine junge Frau zusammen. Wenige Minuten zuvor ist sie noch gut gelaunt an mir vorbeigelaufen. Das Schlimme ist: Die meisten kriegen das gar nicht mit. Stattdessen ertönt aus den Boxen von einem der Lkws Helene Fischers "Atemlos durch die Nacht". Fast schon zynisch. Aber die Leute müssen sich auch nicht um die junge Frau kümmern, denn innerhalb von Sekunden sind auch schon Sanitäter da und kümmern sich um sie. Ich gehe weiter und frage mich, warum bin ich eigentlich hier – warum bin ich eigentlich schon wieder hier?
Die Anwohner hassen den Schlagermove
Es ist nämlich nicht mein erstes Mal auf dem Schlagermove. Für meinen besten Freund und mich hat es mittlerweile Tradition. Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, wie es dazu gekommen ist. Denn ich hasse Schlager. Ich hasse es, mich zu verkleiden und doch bin ich da – und benehme mich nicht besser als der Rest.
Damit gehöre ich zu den Leuten, auf die viele Anwohner im Stadtteil Sankt Pauli seit Jahren keinen Bock mehr haben. Sie wollen solche Veranstaltungen, solch ein Partypublikum nicht mehr haben. Sie sind genervt von der Musik, dem Müll, den Horden von den Wildpinklern und den Leuten, die vor ihre Tür kotzen. Deshalb setzt sich das Bündnis "St. Pauli selber machen" seit Jahren gegen die Kommerzialisierung und für stärkere Mitbestimmung der Anwohner in ihrem Stadtteil ein.
Die Bezirkspolitiker Michael Osterburg von den Grünen und Arik Willner von der SPD wollen den Schlagermove 2019 sogar endgültig vom Hamburger Kiez verbannen. In der "Welt am Sonntag" sagte Willner, dass "St. Pauli ein realer Stadtteil mit realen Bewohnern ist und keine Disney-Kulisse“. Osterburg geht sogar noch einen Schritt weiter: "Sollte Herr Klingner (der Veranstalter des Schlagermoves in Hamburg, Anm. d. Red.) den Schlagermove nicht räumlich verlegen, werden wir ihn im nächsten Jahr nicht genehmigen.“
Allerdings ist fraglich, ob der Drohung auch Taten folgen werden. Im Frühjahr 2019 sind in Hamburg Bezirkswahlen. Und so eine Aussage kommt bei einigen Wählern bestimmt gut an.
Schlagermove und ich – das ist wie der Ballermann für viele Deutsche
Mir persönlich wäre es ganz recht. Ich muss nicht mehr hin – so wie in diesem Jahr, in dem ich ausgerechnet am Tag des Schlagermoves arbeite. Dennoch kriege ich irgendwie schon Lust hinzugehen, wenn ich das diesjährige Outfit meines besten Freundes sehe, was er mir per Whatsapp geschickt hat: der Borat Mankini mit einem hawaiianischen Rock und einer bunten Perücke. Er ist wieder da. Er wird wieder Spaß haben. Wenn ich nicht arbeiten müsste, wäre ich vermutlich auch da. Vermutlich hätte ich auch das gleiche an. Denn irgendwie kann ich nicht ohne. Der Schlagermove und ich – das ist wie der Ballermann für viele Deutsche – einmal Jahr benimmt man sich daneben, auch wenn es komplett gegen dein Naturell ist.
